Solidarität mit Abstand und online

Der Deutsche Gewerkschaftsbund ruft erstmals nicht zu seinen großen Maikundgebungen auf – Aktionsprogramm im Internet

Der 1. Mai wird nicht nur als Auftakt des Wonnemonats gefeiert, sondern hat als Tag der Arbeit in Deutschland ebenso wie in vielen anderen Ländern eine lange Tradition. Doch die aktuelle Coronakrise macht auch vor dieser Tradition nicht Halt. Wir haben dazu mit Christa Walz gesprochen, die als Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds Rems-Murr (DGB) aktiv ist.

So wie hier zu sehen – bei einer traditionellen Maikundgebung des DBG in Waiblingen – wird es in diesem Jahr nicht zugehen. Es werden voraussichtlich stellenweise kleinere Grüppchen mit gebührendem Abstand unter den Teilnehmern und unter Wahrung der hygienischen Bestimmungen auf die Straße gehen. Das meiste wird sich am Tag der Arbeit aber im Internet abspielen. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Becher

So wie hier zu sehen – bei einer traditionellen Maikundgebung des DBG in Waiblingen – wird es in diesem Jahr nicht zugehen. Es werden voraussichtlich stellenweise kleinere Grüppchen mit gebührendem Abstand unter den Teilnehmern und unter Wahrung der hygienischen Bestimmungen auf die Straße gehen. Das meiste wird sich am Tag der Arbeit aber im Internet abspielen. Foto: A. Becher

Von Bernhard Romanowski

Frau Walz, erstmals in der 130-jährigen Geschichte des Tags der Arbeit wird es am kommenden 1. Mai keine Kundgebungen geben. Bleiben die Gewerkschaften an diesem geschichtsträchtigen Tag tatsächlich stumm, oder werden Sie sich und die Belange der Arbeiter und Angestellten in anderer Form in die Öffentlichkeit transportieren?

Wenn wir in der Geschichte ganz zurückgehen, hat der 1. Mai eigentlich schon 1886 begonnen bei einer Streikkundgebung am Haymarket in Chicago mit brutalen Eingriffen der Polizei. 1890 gab es dann nach dem Aufruf der Zweiten Sozialistischen Internationalen weltweite Aktionen am 1. Mai. Wichtig bis heute ist, wofür die Beteiligten damals kämpften – nämlich für den Achtstundentag. Ein Thema, das bei der Arbeitszeitflexibilisierung und auch bei der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt wieder wichtig ist, nämlich der Arbeit ein Maß und Ende zu geben und eine klare Abgrenzung zur Freizeit zu schaffen. Seit 1949 ist es das erste Mal, dass der DGB nicht zu Maiveranstaltungen aufruft. Das ist für den Kreisverband Rems-Murr sehr bitter – viele sind seit Jahrzehnten bei jeder Maifeier, und deshalb geht diese Absage ans Herz.

Findet diesmal wirklich nichts auf der Straße statt?

Die gesetzlichen Bestimmungen bei solchen Kundgebungen einzuhalten, ist schwer. Der DGB will Menschen nicht gesundheitlich gefährden durch Großveranstaltungen. Vieles findet deshalb im Netz statt, etwa per Video und per Sprachnachricht. (siehe Infokasten). Unser Kreisverband sieht trotzdem Möglichkeiten, die Solidarität auch in öffentlichen Auftritten darzustellen – unter strengster Einhaltung des Gesundheitsschutzes. Nicht nur mediale Solidarität, sondern menschliche Begegnung ist wichtig am 1. Mai. Einzelne Mitglieder werden aktiv in einem losen Zusammenschluss mit anderen, die den 1. Mai nicht bloß virtuell, sondern live erleben wollen.

Welche Auswirkungen hat die Coronakrise für die Gewerkschaftsarbeit? Wie geht man beim DGB in der Region Nordwürttemberg und im Rems-Murr-Kreis damit um?

Alle Ebenen des DGB mischen sich ein in das politische Geschehen seit Corona. Die Internetseiten werden häufig aufgerufen. Es gibt eine Fülle von Presseerklärungen und Berichten in den Medien: Ganz oben steht die Forderung nach Aufstockung des Kurzarbeitergeldes.

Die Beschäftigten des DGB sind wie überall vorwiegend im Homeoffice, in Telefonkonferenzen, auch mit uns Ehrenamtlichen. Der Kreisverband Rems-Murr mit den drei Ortsverbänden Fellbach, Schorndorf und Winnenden hat seit Ende letzten Jahres an der Vorbereitung des 1. Mai gearbeitet. Es sollte ein besonderer 1. Mai werden mit dem Hauptredner Matthias Fuchs, betrieblichen Beiträgen und Grußworten von gesellschaftlichen Gruppen, die in Kontakt mit dem DGB stehen und aus ihrer Sicht den Begriff der „Transformation“ verständlich machen sollten für unseren Alltag.

Wir sehen uns als DGB mit seinen Einzelgewerkschaften im Recht und in der Pflicht, unsere gemeinsame Zukunft zu bestimmen: Wie wollen wir in Zukunft leben und wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Was sind die Forderungen und Ziele derer, die eine lebenswerte Arbeitswelt und eine überlebensfähige Umwelt haben wollen für jetzt und für weitere Generationen. Diese Diskussion wollten wir gemeinsam beginnen am 1. Mai. Für den 1. Mai waren drei Veranstaltungen geplant, die es nachzuholen gilt.

Bei allen negativen Vorzeichen und den Einschränkungen, die die Coronakrise mit sich bringt: Sehen Sie auch eine Chance, dass die Beschäftigten gestärkt aus der Krise hervorgehen könnten, was ihre arbeitsmarktpolitische Position angeht?

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz ist plötzlich ein zentrales Thema, vorher gab es ein zähes Ringen um die Umsetzung des Arbeitsschutzgesetzes, also die umfassenden Gefährdungsbeurteilungen betreffend und aktive Maßnahmen dazu. Corona bescherte uns auch die Frage, wie die Beteiligungsrechte in den Interessenvertretungen behandelt werden: Wie setzt man das um außerhalb der klassischen Sitzungskultur? Die Arbeitgeberseite war nicht überzeugt, dass sie ihre Gremien wie die Betriebs- und Personalräte und die Mitarbeitervertretungen einbeziehen muss in das weitere Vorgehen. Kurzarbeit und Belastungssituationen, Existenzängste in vielen Bereichen, also nicht gerade erstrebenswerte Arbeitssituationen, bestimmen zurzeit den Arbeitsalltag.

In den vergangenen Wochen wurde Ärzten und Pflegekräften vielfach Beifall gespendet und deren gesellschaftlich systemrelevante Bedeutung betont. Es war auch viel von Solidarität mit den Schwachen die Rede. Wie bewerten Sie das?

Das Wort Solidarität wurde inflationär benutzt in den letzten Tagen. Das neoliberale Denken – auf Gewinn und Wettbewerb ausgerichtet – hat zum Beispiel das Gesundheitswesen nicht mehr als elementaren Bestandteil der Daseinsvorsorge gesehen, sondern als einen lukrativen Geschäftsbereich, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse von Patienten und Personal. In diesem Bereich muss es radikale Veränderungen geben.

Wie sehen Sie als Gewerkschafter das Thema Homeoffice, das ja schon als Wort des Jahres 2020 gehandelt wird?

Die Vor- und Nachteile sind deutlich geworden. Homeoffice ist nicht die Wunderwaffe zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Insbesondere wenn mehrere Kinder zu Hause betreut und beschult werden müssen. Es muss sehr genau überlegt und mit den Interessenvertretern besprochen und vereinbart werden, wann und wie der Einsatz von Homeoffice richtig ist für den jeweiligen Betrieb. Auch nicht alle Beschäftigten sind aus dem Stand geeignet dafür. Die eigene Grenzziehung zwischen Arbeitspflicht und Freizeit muss gestaltet werden können, die kollegiale Verbindung und der Austausch muss auch außerhalb von Telefon und Video noch möglich sein. Andere Begriffe kennzeichnen meines Erachtens treffender die aktuelle Situation: etwa Gemeinwohl und Systemrelevanz.

Was sind derzeit die dringlichsten Anliegen des DGB in der Region Nordwürttemberg und im Rems-Murr-Kreis, und welche langfristigen Perspektiven verfolgt Ihre Gewerkschaftsarbeit?

Im Rahmen des Zukunftsdialogs hat sich der DGB Rems-Murr für den Bereich Wohnen und dessen Teilaspekte als Grundsatzthema für die nächsten Monate entschieden. Zurzeit sind wir auf der Suche nach Kooperationspartnerschaften zu diesem Themenfeld. Jetzt hat die Coronakrise uns zeitweise gestoppt. Weiterhin sind wir Bündnispartner bei Aktionen gegen rechte und rechtsextremistische Angriffe und Schandtaten. Wir wollen außerdem, dass die Fachstelle gegen rechts im Landratsamt in Waiblingen die politische Rückendeckung des Kreistags bekommt und ihre Arbeit fortsetzen kann, obwohl alle gesellschaftlichen Gruppierungen aus dem Beirat dieser Fachstelle auf Beschluss des Kreistags rausgefallen sind. Am 8. Mai vor 75 Jahren wurde Europa von Faschismus und Krieg befreit, heute sind die überfüllten Flüchtlingslager die Folge von grausamen Kriegen. Beim jährlichen Anti-Kriegstag beziehen wir klar Position: radikale Senkung der Rüstungsausgaben – diese Milliarden fehlen für Kitas und Schulen, für den sozialen Wohnungsbau, für das Gesundheitswesen und so fort. Dann sind Mitglieder des Kreisverbands und der Ortsverbände sehr daran interessiert, dass der DGB im Rems-Murr-Kreis sich mit der Zukunft mit Corona und nach Corona beschäftigt. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Kreisverband hat keinen Anflug von Größenwahnsinn, wir wollen nur zu allen Fragen stabile Lösungsvorschläge machen.

Welche Fragen treiben Sie als Gewerkschafterin dabei um?

Fragestellungen gibt es zur Genüge: Werden ökologische und soziale Gesichtspunkte weiterhin politisch relevant sein oder werden alle guten Ansätze dem Wachstum des Bruttosozialprodukts geopfert? Auch die Grundrente? Wie findet der Lastenausgleich nach Corona statt? Verschärft sich die Kluft zwischen Arm und Reich? Hier in Deutschland und in Europa? Wird die menschenunwürdige Situation der Flüchtlinge in den Lagern verbessert werden können? Gibt es politische Lösungen innenpolitisch und in Europa? Was ist mit der Steuergerechtigkeit? Wird es außer Beifall und guten Worten grundlegende Veränderungen im Gesundheitswesen, auch in der Altenpflege, geben? Diese Liste kann beliebig fortgesetzt werden.

Christa Walz ist Vorsitzende des DGB im Rems-Murr-Kreis.

Christa Walz ist Vorsitzende des DGB im Rems-Murr-Kreis.

Info

Gewerkschafter im ganzen Land begehen den diesjährigen Tag der Arbeit unter dem Motto „Solidarisch ist man nicht alleine“. Das Motto stand laut Angabe des DGB bereits vor Ausbruch der Coronapandemie fest. Hintergrund sei, dass die nun vielfach beschworene Solidarität seit 172 Jahren, also seit der Gründung der ersten deutschen Gewerkschaft 1848, zu den Grundüberzeugungen der Arbeiterbewegung gehöre.

„Wir können den 1. Mai 2020 nicht mit großen Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen feiern. Das ist schmerzlich. Aber
Solidarität heißt in diesen Zeiten: mit
Anstand Abstand halten. Alle zusammen retten wir Menschenleben, indem wir Infektionen verhindern“, so Martin Kunzmann, der Vorsitzende des DGB Baden-Württemberg. Kunzmann: „Uns stößt aber extrem bitter auf, dass Nazis und Rechtsradikale wieder auf die Straßen gehen dürfen, während Demokraten vernünftig sind und sich an die Regeln halten.“

Der DGB Baden-Württemberg wird am 1. Mai ab 10 Uhr einen einstündigen Stream senden mit Videobotschaften von Gewerkschaftern aus ganz Baden-Württemberg: „Die Altenpflegerin, die schon vor Corona am Limit gearbeitet hat, ist ebenso dabei wie der Betriebsrat in der Zulieferindustrie, wo ein Teil der Belegschaft in Kurzarbeit ist, der andere jede Menge Mehrarbeit leistet“, so Kunzmann. Winfried Kretschmann, Wirtschafts- und Arbeitsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut sowie die Landesvorsitzenden von SPD und Linke, Andreas Stoch und Sahra Mirow, werden Grußbotschaften überbringen. Der Stream ist über die Website https://bw.dgb.de/erstermai abrufbar. Der Beitrag wird auch unter www.dgb.de/erstermai bei Facebook und bei YouTube zu finden sein.

Ab 11 Uhr geht es auf der Homepage des DGB weiter mit Liveauftritten, Talkrunden und Interviews.

In einigen Städten, darunter in Stuttgart und Heilbronn, wird es symbolische Aktionen geben, um den Tag der Arbeit auch auf der Straße sichtbar zu machen. Dabei werden alle Schutzmaßnahmen eingehalten, versprechen die Verantwortlichen des DGB.

Der DGB Baden-Württemberg vertritt 815 068 Mitglieder aus den acht DGB-Gewerkschaften (Stand 31. Dezember 2019). Im Jahresvergleich ist das ein Plus von 0,3 Prozent. Von den Mitgliedern sind 263 803 weiblich. Ihre Zahl ist um 1,00 Prozent gestiegen. 101 227 Mitglieder sind gemäß DGB-Angaben 27 Jahre alt oder jünger.

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Erstellt:
30. April 2020, 06:00 Uhr

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