Streit um die Gender-Sprache: Stuttgart als Vorreiter*in?

dpa/lsw Stuttgart. Die einen regen sich auf über Gender-Wahn und ein „überspanntes Sprachgehabe“, die anderen über Diskriminierung der Geschlechter. Wie in anderen Städten soll auch im Stuttgarter Rathaus die Sprache sensibler werden. Davon ist nicht jeder begeistert.

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) spricht bei einem Interview. Foto: Sebastian Gollnow/dpa/Archivbild

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) spricht bei einem Interview. Foto: Sebastian Gollnow/dpa/Archivbild

Im Stuttgarter Rathaus soll die Sprache künftig sensibler werden, was die unterschiedlichen Geschlechter angeht. Mit einer Handreichung soll die Stadtverwaltung künftig stärker die Geschlechtsidentität berücksichtigen - unter anderem durch den Gender-Stern (Mitarbeiter*innen). Rollen-Klischees und Stereotype sollen ebenfalls vermieden werden - so solle statt „Mutter-Kind-Parkplatz“ lieber der Begriff „Familienparkplatz“ verwendet werden. Der Leitfaden empfiehlt als Alternative zur Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren“ geschlechterneutrale Formulierungen wie „Sehr geehrte Teilnehmende“ oder „Liebe Menschen“. Zunächst hatten weitere Medien darüber berichtet.

Auch wenn das zehnseitige Schreiben nur Empfehlungscharakter hat, ist eine hitzige Debatte über die Gender-Sprache entbrannt. Die baden-württembergische Kultusministerin und CDU-Spitzenkandidatin zur Landtagswahl, Susanne Eisenmann, hält nichts von den neuen Gender-Regeln der Stadt. „Da muss man sich schon fragen, ob wir keine anderen Sorgen haben“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. „Ich hätte mir gewünscht, dass Fritz Kuhn sich mit der gleichen Verve um die Sicherheit und die Beleuchtung am Eckensee gekümmert hätte wie um die Frage, ob man die Anrede verändern soll“, sagte Eisenmann mit Blick auf das grüne Stadtoberhaupt und die Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt.

Die geschlechtergerechte Sprache sorgt immer wieder für Diskussionen. Befürworter wollen damit für Gleichberechtigung von Männern und Frauen im geschriebenen Wort sorgen - zum Beispiel mit Wörtern wie Studierende statt Studenten oder auch mit einem Stern vor der weiblichen Endung. Sprachwissenschaftler sehen mitunter die deutsche Sprache in Gefahr.

Kuhns Parteikollege Winfried Kretschmann zog erst vor wenigen Tagen über „Sprachpolizisten“ und „Tugendterror“ her - allerdings unabhängig von den Gender-Regeln der Stadt. „Jeder soll noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“, sagte der Ministerpräsident, als er auf das Thema in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur angesprochen wurde. Ihm falle es nicht leicht, stets die weibliche Form zu nennen, wenn er etwa von Polizisten und Polizistinnen spreche, räumte Kretschmann ein. Mit seinen Aussagen zog er auch innerparteilich Kritik auf sich.

Der baden-württembergische CDU-Generalsekretär Manuel Hagel kritisierte den Koalitionspartner am Dienstag für die ganze Gender-Debatte. „Ich würde mir vom Koalitionspartner wünschen, dass er aus dem sprachpolitischen Elfenbeinturm heruntersteigt und sich mit den Problemen befasst, die den Menschen tatsächlich Sorgen bereiten“, sagte Hagel am Dienstag. Man stehe einen Wimpernschlag vor der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und stecke mitten in einer Pandemie. „Da es ist schon bemerkenswert, welches Thema bei den Grünen offenbar oberste Priorität hat.“ Die CDU werde weiterhin für sichere Arbeitsplätze und eine gute Perspektive für die Wirtschaft in Baden-Württemberg kämpfen. „Sollte der grüne Partner sich hieran beteiligen wollen ist er herzlich willkommen.“

Der grüne Oberbürgermeister Kuhn selbst verteidigte aber am Dienstag die neuen Genderregeln seiner Stadtverwaltung. Er sprach von einer zeitgemäßen Richtschnur, wie man mit bestimmten Personen oder Personengruppen sensibel kommunizieren könne. „Sprachwandel geht nicht per Gesetz und auch nicht mit einer „Sprachpolizei“.“ Die Debatte sei überzogen. Es handele sich um einen Leitfaden mit Handlungsempfehlungen, der im Verwaltungsausschuss auf breite Zustimmung getroffen war.

Die Stadt reagiert mit den Empfehlungen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Herbst 2017, sagte Ursula Matschke. Sie ist Leiterin der Abteilung Chancengleichheit und Diversity bei der Stadt Stuttgart und hat den Leitfaden erarbeitet. Die Regeln stellten eine Übergangslösung dar bis sich der Bund auf einheitliche Regeln für gendersensible Sprache geeinigt habe. „Es ist schon ein bisschen ein Reizthema, wie sexistische Werbung“, sagte sie. „Aber es kann nicht sein, dass Minderheiten nicht zu Wort kommen dürfen.“

Der Leitfaden macht die Stuttgarter Verwaltungssprache aber nicht zwangsläufig komplizierter, sondern entrümpelt auch an mancher Stelle. So soll künftig die bisherige Schreibung mit Binnen-I, Schrägstrich oder Unterstrich nicht mehr verwendet werden.

Zum Artikel

Erstellt:
4. August 2020, 15:39 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen