Strategie zur Inklusion wird erstellt

Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Rems-Murr-Kreis soll verbessert werden. Der Landrat will Vertreter verschiedener Bereiche an einen Tisch bringen und später einen Kümmerer bestellen. Die Grünen bemängeln das Timing des Ansinnens.

Projekte wie die Inklusive Radtour, die im September in Murrhardt stattfand, sind im Rems-Murr-Kreis noch recht rar. Auch im alltäglichen Leben soll die Teilhabe von Menschen mit Behinderung hier nun strategisch vorangetrieben werden. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Projekte wie die Inklusive Radtour, die im September in Murrhardt stattfand, sind im Rems-Murr-Kreis noch recht rar. Auch im alltäglichen Leben soll die Teilhabe von Menschen mit Behinderung hier nun strategisch vorangetrieben werden. Foto: A. Becher

Von Bernhard Romanowski

WAIBLINGEN. Um die Inklusion im öffentlichen Raum voranzubringen, will die Landkreisverwaltung eine Strategie für den Rems-Murr-Kreis entwickeln. Hierbei sollen alle wichtigen Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und des öffentlichen Lebens gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung einbezogen werden. Das Thema stand diese Woche im Sozialausschuss des Kreises auf der Tagesordnung. Dorothee Haug von Schnakenburg stellte das Vorhaben in der Sitzung vor. Im Ausschuss sprach man sich mehrheitlich für die Aufstellung einer Inklusionsstrategie aus. Für den ersten Schritt ist an die Ausrichtung eines Inklusionsgipfels gedacht.

Hier soll unter anderem zusammen mit der Agentur für Arbeit und den Religionsgemeinschaften, mit dem Staatlichen Schulamt und den Wohnungsbaugesellschaften, mit Industrie-, Handels- und und Handwerkskammer sowie mit Vertretern aus den Bereichen Kultur, Sport und Tourismus und den Vertretern der Selbsthilfeorganisationen von Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen festgelegt werden, welche Ziele in den nächsten fünf Jahren im Bereich Inklusion im Rems-Murr-Kreis erreicht werden sollen und wo die größten Hindernisse bei der Umsetzung der Inklusion liegen.

Die FDP/FW-Fraktion hat den Antrag auf ein Inklusionskonzept vor zwei Jahren gestellt.

In einem zweiten Schritt stellt die Landkreisverwaltung dann einen Kümmerer, der für die Initiierung und die Begleitung der Inklusionsprojekte verantwortlich ist und die Prozesse bei deren Umsetzung in den Gemeinden begleitet. Der Kümmerer soll zudem auch das Netzwerk an Akteuren und die Öffentlichkeitsarbeit koordinieren. „Ein Steuerungsgremium begleitet die Umsetzung der Projekte“, so die Vorstellung im Landratsamt.

Die gemeinsame Fraktion aus FDP und Freien Wählern im Kreistag hatte bereits vor zwei Jahren den Haushaltsantrag gestellt, die Landkreisverwaltung möge ein Konzept erarbeiten, um die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention auf Kreisebene umzusetzen, und eine Inklusionskonferenz einberufen, und zwar nach dem Modell des Landkreises Reutlingen. Das Dezernat für Soziales, Jugend und Bildung setzte sich laut Landratsamt intensiv mit dem Thema Inklusionskonferenz auseinander und prüfte verschiedene Modelle.

Die Inklusionskonferenz im Landkreis Reutlingen ist demnach die einzige in Baden-Württemberg, die nach Beendigung der Modellphase noch existiert. Die Geschäftsführung der Inklusionskonferenz in Reutlingen wurde zwischenzeitlich eingeladen, ihr Modell vorzustellen, um daraus mögliche Ansätze für den Rems-Murr-Kreis zu entwickeln.

„Nach dieser Vorstellung und einer intensiven Prüfungsphase kam die Verwaltung zu dem Schluss, dass das Reutlinger Modell nicht direkt auf den Rems-Murr-Kreis übertragbar ist“, so die Bewertung im Waiblinger Kreishaus. Das Format einer Konferenz, die zweimal jährlich tagt, sieht man dort kritisch. Oftmals sei es so, dass Konferenzen, die über Jahre hinweg regelmäßig tagen, nicht mehr die Schlagkraft besitzen, die einst beabsichtigt war. Auch im Landkreis Reutlingen habe sich gezeigt, dass mittlerweile deutlich weniger Entscheidungsträger an den Konferenzen teilnehmen und Themen rund um die Inklusion nicht mehr konsequent unterstützt würden. Motor der bisher sehr erfolgreichen Umsetzung der Inklusion sei indessen die Geschäftsstelle der Inklusionskonferenz. Landrat Richard Sigel plädiert daher dafür, im Rems-Murr-Kreis bei der Inklusion einen etwas anderen Weg zu beschreiten.

Da es hier verschiedene große und auch traditionsreiche Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt, leben viele Menschen mit Behinderungen im Rems-Murr-Kreis. Der Großteil dieser Menschen lebt und arbeitet in Einrichtungen wie beispielsweise der Diakonie Stetten oder der Paulinenpflege.

„Inklusive Strukturen, wie diese die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht, die den Menschen mit Behinderungen ein Leben inmitten der Gesellschaft ermöglichen, sind aktuell nur ansatzweise und nicht flächendeckend vorhanden“, lautet derweil eine Feststellung des Landratsamts. So sei zum Beispiel die Zahl inklusiv beschulter Kinder und Jugendlicher im Rems-Murr-Kreis sehr gering, während die Zahl der Schüler in den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ, früher: Sonderschule) nach wie vor ansteige. Die Zahl der Plätze in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung sei ebenso weiter steigend nachgefragt. Auch seien die inklusiven Strukturen im Bereich der Kultur, der Mobilität, der Kommunikation, des Sports und im Tourismus nach wie vor nicht so vorhanden, dass Menschen mit Behinderungen im Kreisgebiet ohne Weiteres daran teilhaben können. In Waiblingen verweist man auf die großen Anstrengungen, die von Landkreis, Städten, Gemeinden und auch den Einrichtungen der Behindertenhilfe bereits unternommen wurden, um inklusive Strukturen zu schaffen – beispielsweise die Beteiligungsprozesse im barrierefreien Ausbau von Bushaltestellen und der Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden.

Insgesamt betrachtet stehe der Landkreis beim Aufbau inklusiver Strukturen aber noch ziemlich am Anfang. Dies sei allerdings in vielen Landkreisen ebenso der Fall. Einen genauen Fahrplan der Veranstaltungen im Rahmen der Inklusionsstrategie zu erstellen, ist indessen aufgrund der Unwägbarkeiten der Coronapandemie derzeit schwierig, so war im Kreissozialausschuss zu hören.

Bernd Messinger begrüßt es als sozialpolitischer Sprecher der grünen Kreistagsfraktion, dass sich die Kreisverwaltung Gedanken zu dem Thema macht. „Allerdings halten wir den Zeitpunkt, mitten in der zweiten Welle der Coronapandemie für wenig geeignet, das Thema Inklusion voranzutreiben“, so Messinger im Ausschuss. Auf Nachfrage unserer Zeitung präzisierte er: „Wir als Grünen-Fraktion halten es für kaum denkbar, in dieser Coronasituation ein Veranstaltungsformat zu finden, das geeignet wäre, das Thema angemessen zu bearbeiten. Gerade mit Blick auf die aktuellen Prioritäten und auf die Ressourcen, die es hierzu in der Verwaltung, aber auch bei den zu beteiligenden Institutionen braucht, passt das gerade gar nicht in die Zeit.“ Die meisten Menschen hätten momentan und wohl auch in den nächsten Wochen oder Monaten weder die Zeit noch den Nerv, sich damit grundlegend zu befassen, so Messinger weiter. Die von der Verwaltung erläuterte Vorlage sei ein wichtiges und gutes Konzept, mit dem sich der Kreistag weiter befassen sollte, wenn die Zeit dafür reif ist. Messinger: „Wir hoffen natürlich sehr darauf, dass dies im Lauf des nächsten Jahres schon der Fall sein wird.“

Inklusion im Rems-Murr-Kreis

Inklusion bedeutet die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen, unabhängig von Alter, Herkunft, Hautfarbe, Religion, gesundheitlicher, körperlicher oder sonstiger Einschränkung am gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben in der Gesellschaft. Dies wurde in der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland rechtswirksam ist, festgeschrieben.

Am 26. März 2009 ist die Bundesrepublik Deutschland der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte Behinderter beigetreten. 2015 trat das neue Landesbehindertengesetz in Baden-Württemberg in Kraft, das die Umsetzung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung an allen Lebensbereichen auch auf kommunaler Ebene festschrieb. 2016 wurde im Rems-Murr-Kreis ein kommunaler Behindertenbeauftragter berufen. Roland Noller ist in dieser Funktion im Landratsamt tätig.

Im Rems-Murr-Kreis mit seinen 427248
Einwohnern leben knapp 49000 Menschen mit einer Schwerbehinderung. 49094
Bürger des Kreises sind 75 Jahre und älter. 35676 Personen verfügen über einen Schwerbehindertenausweis und 13165 Einwohner gelten als Personen mit festgestellter Behinderung. Diese zusammen 48841 Menschen bilden elf Prozent der Kreisbevölkerung (Stand 31. Dezember 2019).

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Erstellt:
26. November 2020, 16:00 Uhr

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