„Stuttgart ist eine Stadt des Miteinanders“

Die Einweihung des neuen Synagogenvorplatzes markiert den Abschluss der Sanierung des Hospitalviertels. Er macht jüdisches Leben in Stuttgart sichtbarer.

Mitglieder der Jugendgruppe Halev tanzen bei der Einweihung des neuen Synagogenvorplatzes im Hospitalviertel.

© Lichtgut/Leif Piechowski

Mitglieder der Jugendgruppe Halev tanzen bei der Einweihung des neuen Synagogenvorplatzes im Hospitalviertel.

Von Jan Sellner

Stuttgart - Susanne Jakubowski, Koordinatorin des Stuttgarter Rats der Religionen und Mitglied der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, hat Tränen in den Augen. Grund war ein Zusammenspiel, besser ein Zusammensingen, das es so noch nicht gegeben hat: Die beiden Chazanim (Kantoren) der Gemeinde, Nathan Goldman und Assaf Levitin, singen gemeinsam vor der Synagoge in der Hospitalstraße – und ein großes Publikum lauscht. Die Besonderheit besteht darin, dass sich hier zwei Vertreter unterschiedlicher religiöser Richtungen zusammengetan haben: der orthodoxe Chazan Stuttgarts und der liberale Chazan der Egalitären Gruppe der jüdischen Gemeinde.

Die Betonung von Gemeinsamkeiten jenseits des Trennenden ist ein Charakteristikum dieses Donnerstagnachmittags im Hospitalviertel. Hunderte Menschen sind gekommen, um bei strahlendem Sonnenschein ein großes Fest zu feiern – mit der Einweihung des neugestalteten Synagogenvorplatzes als Höhepunkt. Lange Zeit war die Hospitalstraße zwischen Fritz-Elsas-Straße und Lange Straße eine Baustelle. Jetzt sind die Arbeiten abgeschlossen. Der Straßenabschnitt hat wieder ein Gesicht. Ein freundliches. Das verdankt er ganz wesentlich dem neu gestalteten Synagogenvorplatz, in den zwölf Bronzeplatten eingelassen sind. Deren Motive stehen für die zwölf Stämme Israels.

Gestaltet hat die Platten der Bildhauer Uli Gsell aus Ostfildern. Sie spiegeln das Bildprogramm aus dem Inneren der von Ernst Guggenheimer geplanten und 1952 wieder errichteten Synagoge wider – der ersten nach dem Krieg neu gebauten Synagoge Deutschlands. Der Vorgängerbau war in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört worden. 

Mit dem neuen Vorplatz und der Umgestaltung der Hospitalstraße ist ein rund zwei Jahrzehnte währender Sanierungsprozess abgeschlossen. Das Hospitalviertel präsentiert sich aus Sicht von Oberbürgermeister Frank Nopper jetzt „aus einem Guss“. Das trifft baulich gesehen zu, inhaltlich ist das Viertel keineswegs homogen. Viele verschiedene Akteure und Einrichtungen sind hier beheimatet, denen es jedoch gelungen ist – unabhängig von einem einheitlichen Straßenbelag – einen starken Zusammenhalt zu entwickeln.

Maßgeblichen Anteil daran haben Ehrenamtliche. Allen voran Eberhard Schwarz, Vorsitzender des Vereins Forum Hospitalviertel, ein stiller, aber unermüdlicher Arbeiter für das Viertel. Von diesem Geist ist auch das Hospitalviertelfest geprägt mit zahlreichen musikalischen Beiträgen – etwa des Kinderchors der israelitischen Religionsgemeinde, des benachbarten St. Agnes-Mädchengymnasiums, des Lehrerseminars und der Yehudi-Menuhin-Stiftung.

Aras: „Jüdisches Leben gehört in die Mitte der Gesellschaft“

Gemeinsamkeit prägt auch den Festakt zur Einweihung des Platzes selbst – passend zu dem Motto „Begegnung schafft Zukunft“. Nach den Worten von Oberbürgermeister Frank Nopper geht vom Hospitalviertel und dem neuen Synagogenvorplatz ein „kraftvolles Signal“ aus. Er sieht darin „ein Zeichen der Offenheit, des Respekts und des Miteinanders über alle Religionen und Kulturen hinweg“. Der Platz sei zudem Ausdruck der Solidarität mit der israelitischen Religionsgemeinschaft. Als zentrale Botschaft formuliert er: „Stuttgart ist eine Stadt des Miteinanders der Religionen und Kulturen und nicht des Gegeneinanders.“

Landtagspräsidentin Muhterem Aras nennt das Hospitalviertel „ein wunderbares Beispiel gelungener Stadtgestaltung, einschließlich des neuen Synagogenvorplatzes: „Wir ehren das Miteinander, das hier entstanden ist“, sagt sie. Solche Orte zeigten, „dass wir nicht nebeneinander leben, sondern miteinander als Gemeinschaft“. Der neue Platz lade ein, jüdisches Leben in der Stadt zu erleben. Damit verbindet sie die Aufforderung, jüdisches Leben nicht nur in der Erinnerungsperspektive zu sehen: „Es ist Gegenwart und Zukunft und gehört in die Mitte unserer Gesellschaft. Wir alle tragen dafür Verantwortung, dass es sicher, sichtbar und selbstverständlich bleibt“. „Begegnungsorte“ wie dieser könnten dazu beitragen, Antisemitismus und Rassismus entgegenzuwirken, sagt sie.

Gesangs- und Tanzwettbewerb Jewrovision kommt nach Stuttgart

Für die Israelitische Religionsgemeinschaft ist die Einweihung des Platzes ein „historischer Schritt“. Dadurch werde die Synagoge als religiöses und kulturelles Zentrum im Viertel sichtbarer. IRGW-Vorstandsmitglied Mihail Rubinstein betont: „Wir stehen glücklich am Ende eines langen Prozesses, an dem viele Menschen guten Willens mitgewirkt haben“. Zur Feier des Tages tritt die Jugendgruppe Halev („Herz“) auf. Sie war zuletzt beim Jewrovision in Dortmund erfolgreich, dem mit rund 1300 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen größten jüdischen Gesangs- und Tanzwettbewerb in Deutschland. 2026 Jahr wird dieser Wettbewerb in Stuttgart ausgetragen.

Unter den vielen Gästen des Festakts im Hospitalviertel ist auch Howard Dancyger, Enkel des bei einer Polizeirazzia am 29. März 1946 getöteten Auschwitz-Überlebenden Shmuel Dancyger, dem tags zuvor ein Platz im Stuttgarter Westen gewidmet wurde. Für den Gast aus den USA reihen sich die beiden Platzeinweihungen in eine mit großer Ernsthaftigkeit geführte Debatte über Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland ein. Etwas, das er als „bewegend“ empfindet.

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Erstellt:
19. September 2025, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
19. September 2025, 23:57 Uhr

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