Telearzt will Versorgungslücke schließen

Jens Steinat betont Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zum Patienten – Eröffnung der Praxis in Spiegelberg verzögert sich

Wie funktioniert eine Arztpraxis ohne Arzt? Diese Frage und noch viele mehr wurden bei einer Infoveranstaltung zur geplanten Eröffnung der Telemedicon-Praxis in der Spiegelberger Mehrzweckhalle beantwortet. Jens Steinat, der in Oppenweiler eine Arztpraxis betreibt und künftig einer der Tele-Doktoren für die Spiegelberger sein will, betonte die Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient und versprach den 80 Besuchern: „Dies ist auch in der Ohnearztpraxis gewährleistet.“

Der persönlich bekannte Arzt am Bildschirm ist noch Neuland in Deutschland. In Spiegelberg soll das Projekt den Kinderschuhen entwachsen. Die Praxis wird in den Räumen der Hautarztpraxis eingerichtet und mit speziellen telemedizinischen Geräten ausgestattet. Foto: tippapatt/stock.adobe.com

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Der persönlich bekannte Arzt am Bildschirm ist noch Neuland in Deutschland. In Spiegelberg soll das Projekt den Kinderschuhen entwachsen. Die Praxis wird in den Räumen der Hautarztpraxis eingerichtet und mit speziellen telemedizinischen Geräten ausgestattet. Foto: tippapatt/stock.adobe.com

Von Matthias Nothstein

SPIEGELBERG. Die Infoveranstaltung war eigentlich zur Eröffnung der besonderen Praxis angesetzt. Aber diese Eröffnung zieht sich noch ein Weilchen hin, erst müssen noch ein paar versicherungsrechtliche Fragen geklärt werden. Steinat erwähnt zum Beispiel seine Berufshaftpflichtversicherung. Selbst den größten Versicherungsunternehmen fällt es derzeit noch schwer, konkrete Auskünfte zu diesem Arbeitsfeld zu erteilen, denn auch sie betreten mit dieser Art von Praxis Neuland. Die Eröffnung hakt aber auch, weil noch nicht ganz klar ist, welche Leistungen der Mediziner anbieten und letztendlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung abrechnen kann. Sicher ist hingegen, dass die Praxis sich künftig die Räume mit der Hautarztpraxis teilt und deshalb nur donnerstags (vormittags) und freitags (ganztätig) geöffnet haben wird, die genauen Uhrzeiten stehen noch nicht fest. Sobald dies der Fall ist und die Eröffnung feststeht, gibt es auch eine Telefonnummer für Terminabsprachen.

Für Steinat kann die Praxis ohne Arzt einen Hausarzt nicht ersetzen. Sie ist vielmehr ein Zusatzangebot und ein Baustein der medizinischen Versorgung. „Im medizinischen Bereich darf das direkte Arzt-Patienten-Verhältnis nicht verloren gehen, welches besonders im hausärztlichen Bereich einen hohen Stellenwert hat. Dies betrifft die immens wichtige zwischenmenschliche Beziehung zum Patienten und das Vertrauensverhältnis. Dadurch ist unserem Beruf im ärztlichen Bereich eine wichtige Sonderstellung und Lotsenfunktion zugewiesen. Kenne ich den Patienten und dessen Familie seit Jahren, dann kann ich Symptome im Gesamtkontext meist besser bewerten und Krankenhauseinweisungen und unnötige Medikamentenverordnungen vermeiden.“

Tobias Gantner ist der Gründer und Geschäftsführer der Philomed GmbH aus Heidelberg, die die Telemedicon-Praxen betreiben wird. Noch ist keine in Betrieb. Der Mediziner ist im Allgäu in einem noch kleineren Ort als Spiegelberg aufgewachsen und kennt die medizinischen Versorgungslücken im ländlichen Raum. Im Hinblick auf das (noch) außergewöhnliche Pilotprojekt stellt der ehemalige Chirurg klar: „Wir wollen nicht die Digitalisierung in den Mittelpunkt stellen, sondern den Mensch.“ Und auch wenn das Geschäftsmodell Ohnearztpraxis heißt, „so wollen wir doch nicht den Doktor ersetzen“. Gantner: „Wir wollen das Gute aus der digitalen Welt mit dem Guten aus der realen Welt kombinieren und daraus etwas Besseres machen. Was die sogenannte Ohnearztpraxis definitiv nicht ist, ist eine Praxis ohne Arzt.“ Auch wenn dies wie ein Widerspruch klingt, steht Gantner voll hinter dem Projekt. Für ihn ist „die Ressource Arzt“ endlich, „das bedeutet für uns, wir müssen sie so sparsam einsetzen, dass sie möglichst vielen Menschen zugutekommt“.

Alle anderen Hausärzte können sich an dem Modell beteiligen, das wird von Steinat ausdrücklich gewünscht. Er hat in der Vergangenheit mit allen Kollegen im Umfeld Kontakt aufgenommen. Die Resonanz ist noch bescheiden. Spiegelbergs Bürgermeister Uwe Bossert ergänzt, „unser Ziel ist es, einen ganzen Pool von Ärzten aufzubauen, damit unsere Bürger keine langen Wartezeiten haben“. In Zukunft soll es möglich sein, dass sich verschiedene Ärzte zusammenschalten, auch Fachärzte, und den jeweiligen Fall besprechen. „Dann wären keine Überweisungen und lange Wartezeiten auf einen Termin beim Spezialisten mehr nötig“, schwärmt Gantner.

Wer nun glaubt, die Praxis sei ein vollwertiger Ersatz, der irrt. „Wir haben da noch ein paar Hürden, die wir überspringen müssen“, sagt Gantner. So geht es derzeit noch um die Frage, was darf die medizinische Fachkraft vor Ort alles. In konkreten Fall handelt es sich bei der Fachkraft um die ehemalige Krankenschwester Susanna Euerle aus Aspach.

Auch Steinat gibt zu bedenken, dass jeder Patient erst bei ihm persönlich in der Praxis gewesen sein muss, bevor er ihn in der Telemedizin-Filiale weiter behandeln darf. „Ich muss den Patienten kennen, ich darf keinen Fremden telemedizinisch behandeln.“

Eine Förderung dieses Projekts gibt es vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Klaus Heider ist dort Abteilungsleiter. Er erklärte gestern, warum sein Ministerium und nicht etwa das Gesundheitsministerium tätig wurde: „Das Projekt hat uns überzeugt. Aber der noch schwierigere Teil steht ihm noch bevor: Es muss auch die Bürger überzeugen.“ Die Berliner Behörde hat deshalb Geld locker gemacht, weil ganz grundsätzlich die dezentralen Strukturen und die große Vielfalt Deutschlands Stärken sind. Diese Dezentralität gilt auch beim Gesundheitswesen, „deshalb müssen wir neue flexiblere Infrastrukturen suchen“. Beim Thema Digitalisierung müsse der ländliche Raum nicht zwingend hinterher hinken, „es gibt viele Bereiche, bei denen er geradezu eine Vorreiterrolle einnimmt“. Für Heider ist die Arztversorgung ein solches Thema. „Eventuell wegen des Handlungsdrucks. Aber dieser löst dann auch einen Innovationsdruck aus.“

Am Ende der Veranstaltung leerte sich die Halle nicht sofort. Viele Bürger suchten das Gespräch mit den Experten und stellten weitere Fragen. Mittendrin die medizinische Fachkraft der künftigen Praxis, Susanna Euerle. Sie freut sich auf den Start des Projekts und kündigte an, sich in den nächsten Tagen im Ort vorzustellen, etwa im Seniorenkreis, damit die Hemmschwelle der Menschen sinkt, in die sehr spezielle Praxis zu gehen.

„Unserem Beruf ist eine wichtige Sonderstellung und Lotsenfunktionzugewiesen“Jens Steinat, Allgemeinarztmit einer Praxis in Oppenweiler

© Jörg Fiedler

„Unserem Beruf ist eine wichtige Sonderstellung und Lotsenfunktion zugewiesen“ Jens Steinat, Allgemeinarzt mit einer Praxis in Oppenweiler

Info
„Der Landarzt stirbt aus“

Spiegelbergs Bürgermeister Uwe Bossert blickte bei der Informationsveranstaltung auf die vergangenen Jahre zurück. Nachdem im Jahr 2013 der Allgemeinarzt Wolfgang Helfmann seine Praxis aufgegeben hatte, folgten langwierige Verhandlungen über die weitere ärztliche Versorgung in Spiegelberg. Dabei wurde die Regelung erreicht, dass die Ärzte Matthias Mehl (Wüstenrot) und Vladimir Krasula (Löwenstein) die Arztpraxis in Spiegelberg als Nebenbetriebsstätte gemeinsam 20 Stunden pro Woche betreiben.

Nachdem diese Regelung 2015 ebenfalls beendet wurde, waren alle Bemühungen Bosserts, einen Allgemeinmediziner für Spiegelberg zu finden, nicht von Erfolg gekrönt. Bossert vertrat daher die Auffassung, dass es nicht nur Spiegelberg, sondern vielen anderen Gemeinden im ländlichen Raum nicht mehr gelingen wird, einen Nachfolger für frei gewordene Arztsitze zu finden. Bossert: „Der Landarzt ist ausgestorben.“ Später widersprach Jens Steinat Bossert vehement: „Ich halte den Landarzt nicht für tot. Es müssen nur die Rahmenbedingungen geändert werden.“

Telemedicon-Praxen sind ländliche Fernbehandlungs- und Diagnostikzentren, die von medizinischen Fachkräften geführt werden. Die Praxen sind mit speziellen telemedizinischen Geräten ausgestattet, die es den Haus- und Fachärzten erlauben, Videosprechstunden und diagnostische Verfahren durchzuführen. So sollen bestehende oder drohende Versorgungslücken im ländlichen Raum geschlossen werden.

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Erstellt:
17. Oktober 2019, 06:00 Uhr

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