Therapie im Gehen

Während der Pandemie haben viele Psychologen und Therapeuten etwas Neues ausprobiert: Die systemische Therapeutin Johanna Mierzwa geht mit ihren Patienten spazieren. Einige Psychotherapeuten in der Region halten ihre Sitzungen als Videokonferenz ab.

Therapeutin Johanna Mierzwa (rechts) bei einem Spaziergang mit Redakteurin Melanie Maier im Plattenwald. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Therapeutin Johanna Mierzwa (rechts) bei einem Spaziergang mit Redakteurin Melanie Maier im Plattenwald. Foto: J. Fiedler

Von Melanie Maier

AUENWALD/WEISSACH IM TAL. Per Telefon über Angstzustände, depressive Schübe oder eine Sucht sprechen? Davon halten die meisten Psychotherapeuten wenig. Zu viel gehe verloren bei einem Gespräch ohne Augenkontakt und Gesten, erklärt die psychologische Psychotherapeutin Birgitta Treu-Scheller aus Auenwald. Sie hat seit dem Beginn der Coronapandemie ihren Patienten angeboten, ihre Sitzung als Videokonferenz abzuhalten. „Da sieht man sich wenigstens“, sagt sie. Einige haben das gerne in Anspruch genommen, waren erleichtert darüber, die Therapie kontaktlos weiterführen zu können. „Andere haben gleich gesagt, das kommt für sie nicht infrage“, sagt Treu-Scheller. Entweder, weil sie es sich einfach nicht vorstellen konnten, oder weil die Psychotherapeutin der einzige verbliebene Kontakt außerhalb der Kernfamilie war.

Die Nachfrage nach einer Therapie ist im vergangenen Jahr leicht gestiegen, hat Treu-Scheller beobachtet, „wobei sich die wenigsten wegen Problemen mit der Pandemie – zum Beispiel aus Angst vor einer Ansteckung – gemeldet haben“. Die Nachfrage im Raum sei generell hoch.

Bei den Sitzungen vor Ort, in ihrer Praxis, wird selbstverständlich auf die Einhaltung der Hygieneregeln geachtet. Masken, Abstand und Lüften gehören dazu. Mit manchen Patienten ging Treu-Scheller gleich ganz an die frische Luft. Spaziergänge als Teil der Therapie, zum Beispiel bei Depressionen oder Ängsten, bietet sie schon seit Jahren an. „Dabei bemerken die Leute oft, wie allein ein Spaziergang in der Natur ihre Stimmung verbessern kann“, sagt sie.

Durch Bewegung wird das Stresshormon Kortisol abgebaut.

Die systemische Therapeutin Johanna Mierzwa aus Weissach im Tal hat das zum ersten Mal während der Pandemie ausprobiert. Mit ihren Klienten geht sie im Plattenwald in Backnang, aber auch im Weissacher Tal und in der Umgebung spazieren. Zirka ein Drittel der Klienten, die zur Einzeltherapie kommen, nehme das Angebot in Anspruch, sagt sie. „Walk &Talk“, also „Gehen und Reden“, nennt die studierte Sozialpädagogin das gemeinsame Spazierengehen, das sie als „unglaublich gute Ergänzung“ zu ihren regulären Gesprächssitzungen sieht. „Bei einem Spaziergang setzt man wirklich Schritt für Schritt etwas in Bewegung“, sagt sie. „Darum geht es ja auch in einer Therapie: sich sprichwörtlich auf den Weg zu machen, um andere Perspektiven sehen zu können, das Alte nochmals neu zu betrachten. Und es tut einfach gut.“

Die Wissenschaft ist auf ihrer Seite: Durch Bewegung wird das Stresshormon Kortisol abgebaut, gleichzeitig steigt die Produktion von Glückshormonen wie zum Beispiel Endorphinen und Serotonin. Darüber hinaus hat allein der Aufenthalt im Wald eine positive Wirkung auf Geist und Körper. Britische Forscher haben schon 2010 herausgefunden, dass Waldspaziergänge bereits nach fünf Minuten zur Entspannung beitragen und das Selbstwertgefühl steigern. Koreanische Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Waldluft dem Herz-Kreislauf-System besonders guttut. Und in Japan ist „Shinrin Yoku“, das „Waldbaden“, schon lange ein Begriff.

In Deutschland sei das Spazierengehen als Therapieform noch nicht sehr weit verbreitet, sagt Johanna Mierzwa. „Dabei hat schon Goethe das Spazierengehen gepriesen“, sagt sie. „Im Gehen kamen ihm angeblich die besten Ideen.“ In den USA sieht es anders aus. Dort führen viele Therapeuten ein „Coaching to go“ im Programm. Dazu hat wahrscheinlich das 1999 erschienene Buch „Working it Out: Using Exercise in Psychotherapy“ (etwa: „Es ausarbeiten: Körperliche Bewegung in der Psychotherapie nutzen“) der US-amerikanischen Sportpsychologin Kate F. Hays beigetragen.

Kann sein, dass das Konzept im Zuge der Pandemie auch in Deutschland an Bedeutung gewonnen hat. „Mir ging es darum, für diejenigen, die nicht in einem geschlossenen Raum sitzen möchten, noch etwas anderes als Online-Sitzungen anzubieten“, sagt Mierzwa. Auf die Idee kam sie im vergangenen Sommer nach einem Gespräch mit einer Kollegin.

Das Prinzip passe nicht zu jedem, sagt Mierzwa: „Manche haben lieber einen geschützten Rahmen.“ Für andere sei es genau richtig. Der sportliche Aspekt soll dabei aber nicht im Vordergrund stehen. Es gehe nach wie vor vor allem um die Therapie, um die Probleme der Person, mit der sie unterwegs sei, sagt Mierzwa. Was sie am gemeinsamen Spaziergang besonders schätzt, ist, dass sich viele mehr entspannen können. Und dass es draußen, zwischen Bäumen und Hecken, leichter fällt, auch einmal zu schweigen, etwa wenn traurige Gefühle aufkommen. Außerdem mag sie die Flexibilität: „Ich kann mit den Klienten Wegen gehen, die sie selbst gerne mögen, oder mit ihnen etwas Neues ausprobieren.“ Für manche, sagt sie, sei solch ein Ausbruch aus dem Alltag schon eine kleine Herausforderung.

Auch nach der Pandemie wird es Videotherapiesitzungen geben.

Da das Konzept gut angenommen wird, möchte Johanna Mierzwa es nach dem Ende der Pandemie weiter anbieten. „Das hätte ich eigentlich schon früher machen können“, sagt sie.

Aufrechterhalten möchte Birgitta Treu-Scheller aus Auenwald auch das Angebot der Videositzungen – aber nur in Ausnahmefällen. „Wenn jemand krank ist, aber noch ein Gespräch führen kann, ist das eine gute Möglichkeit, die Sitzung nicht ausfallen lassen zu müssen“, sagt sie. Angela Noller, die als psychologische Psychotherapeutin in Backnang arbeitet, wird es davon abhängig machen, ob die Videositzungen auch weiterhin von den Krankenkassen übernommen werden. Seitdem sie sie im vergangenen Frühjahr ihren Patienten angeboten hat, wurden die Sitzungen über das Internet sehr gut angenommen. Etwa 30 Prozent haben sie während des Lockdowns genutzt. „Viele meiner Patienten gehören einer Risikogruppe an und waren zu dem Zeitpunkt noch nicht geimpft“, erklärt sie. „So konnte die Therapie fortgeführt werden, ohne Risiken einzugehen.“ Für eine ihrer Patientinnen habe die Online-Therapie sogar besser funktioniert, sagt Noller: „Sie konnte sich dabei besser öffnen.“

Dennoch bevorzugt die psychologische Psychotherapeutin den direkten Kontakt zu den Patienten. „Am Computer bekommt man die Stimmung des Gegenübers nicht so gut mit“, sagt sie. Zudem greift sie gerne auf Bewegungsübungen im Raum oder auf Übungen mit Karten zurück, das ist in einer Videokonferenz schwer möglich.

Nicht zuletzt soll eine Therapie immer auch eine Herausforderung sein, sagt Noller: „Wenn die Leute sich aufraffen müssen, zur Praxis zu gehen, dann haben sie eine bessere Arbeitsmotivation, weil der Eindruck da ist: Der Aufwand muss sich lohnen.“ Bei einer Videokonferenz, bei der man nur den Laptop anschalten müsse, falle diese Motivation weg.

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Erstellt:
11. Juni 2021, 06:00 Uhr

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