Tod einer Fünfjährigen: Eltern erheben Vorwürfe

In der Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung im Rems-Murr-Klinikum Winnenden wird ein massiv geschwächtes Mädchen nach Hause geschickt. Als sich der Zustand der Fünfjährigen weiter verschlechtert, können auch Notärzte die kleine Patientin, die keine Vorerkrankungen hatte, nicht mehr retten.

Simay Altay an ihrem fünften Geburtstag. Es sollte ihr letzter sein. Foto: privat

Simay Altay an ihrem fünften Geburtstag. Es sollte ihr letzter sein. Foto: privat

Von Matthias Nothstein

Backnang/Winnenden. Für Eltern ist es das Schlimmste, was passieren kann: Ihr Kind stirbt. Und das, obwohl es kurz zuvor noch kerngesund, lebensfroh und glücklich war. Erleben mussten dies Melek und Aytac Altay aus Backnang. Ihre fünfjährige Tochter Simay ist am Sonntag kurz nach Mitternacht im Schockraum der Notaufnahme des Rems-Murr-Klinikums Winnenden gestorben. Simays Eltern und ihr Onkel Serkan Demirok machen den Ärzten Vorwürfe. Das Kind könnte noch leben, wenn man die Bedenken der Angehörigen ernst genommen hätte.

Die Chronik von Simays letzten Tagen aus Sicht ihres Onkels Serkan Demirok:

Am Dienstag vergangener Woche hatte die Fünfjährige Fieber, weshalb die Eltern mit ihr zu einem Kinderarzt gingen.

Am Donnerstag und Freitag musste sich das Kind mehrfach übergeben, zudem war die Körpertemperatur immer noch leicht erhöht und eine Bindehautentzündung hatte sich eingestellt. Am Freitag wurde das Kind einem weiteren Kinderarzt vorgestellt. Der Zustand des Mädchens verschlechterte sich immer weiter.

Am Samstag ging es Simay so schlecht, dass sie die Arme und den Kopf nicht mehr heben konnte. Die Eltern brachten sie in die Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung, die in den Räumen des Rems-Murr-Klinikums Winnenden untergebracht ist und wo der diensttuende Kinderarzt die kleine Patientin gegen 18 Uhr untersuchte. Zu dieser Zeit war Simay bereits so geschwächt, dass die Eltern sie tragen mussten. Demirok bezeichnet die Untersuchung als „oberflächlich“. Andererseits bestätigt er, dass Simay Blut entnommen wurde. Zudem erhielt sie gegen das ständige Übergeben ein Zäpfchen. Der Bitte der Eltern, das Kind wegen des extrem schlechten Zustands stationär aufzunehmen, wurde nicht entsprochen. Vielmehr erhielten sie den Ratschlag, ihre Patientin zu beobachten und erneut zu kommen, sollte sich der Zustand weiter verschlechtern.

Das Kind konnte nicht mehr stehen und nicht mehr sprechen

Zu Hause in Backnang angekommen trat genau dieses ein. Das Mädchen konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, es schwitzte und konnte auch nicht mehr sprechen. Kurz vor Mitternacht traf der alarmierte Notarzt ein. Demiroks Beobachtung: „Die Helfer waren sofort in Panik.“ Vor Ort stellten sie einen Herzstillstand des Kindes fest und begannen mit der Wiederbelebung, die laut Demirok auf geringem Niveau gelang. Das Kind kam in den Rettungswagen, der noch längere Zeit vor dem Haus stand. Dann raste er nach Winnenden.

Die Eltern und Demirok fuhren hinterher und begleiteten das Kind bis in die Notaufnahme. Eine Ärztin zeigte sich dort laut Demiroks Wahrnehmung gelinde gesagt irritiert, warum die Eltern ihr Kind so spät bringen würden. Demirok: „Sie dachte, wir waren seit Tagen bei keinem Arzt. Als wir ihr dann sagten, dass wir vor wenigen Stunden in der Kinderambulanz waren und wieder heimgeschickt worden sind, da war sie schockiert.“ Wenige Minuten später verlor Simay ihren Kampf mit dem Tod, ihr Herz hörte endgültig auf zu schlagen.

Nach Simays Tod wurden ihr Bruder und zwei Cousins stationär aufgenommen

Seit dieser Stunde ist das Leben Demiroks nicht mehr dasselbe wie zuvor. Er berichtet unter Tränen von mehreren Nervenzusammenbrüchen der verzweifelten Eltern und der Verwandtschaft: „Wir weinen jede Stunde. Unser Schmerz ist unertragbar. Simay war so ein fröhliches, aufgewecktes, munteres Kind, im Sommer sollte sie eingeschult werden. Ich verstehe es nicht, wie es so weit kommen konnte. Die Eltern sind ihrer Fürsorgepflicht zu jeder Zeit nachgekommen und sie wollten das Kind den Experten überlassen. Aber diese schickten sie weg. Das war ärztliches Versagen. Ich bin mir sicher, man hätte das Kind retten können, wenn man es schon früher im Klinikum maximal versorgt hätte.“

Nach Simays Tod wurden ihr sechs Monate alter Bruder und zwei Cousins, fünf und sieben Jahre alt, denen es ebenfalls schlecht ging, stationär aufgenommen.

Der Schorndorfer Kinderarzt Ralf Brügel ist der Sprecher der Kinderärzte im Rems-Murr-Kreis. Zum konkreten Fall äußert sich der Mediziner nicht, da er die Details nicht kennt und das Kind nie gesehen hat. Ganz losgelöst von der beschriebenen Tragödie versucht er dennoch, die Schwierigkeit der Kinderarztarbeit zu erklären. Eine Besonderheit dieser Fachdisziplin ist, „dass unsere Arbeit als Kinderärzte davon geprägt ist, dass wir es zum Glück ganz überwiegend mit gesunden Kindern zu tun haben“. Der erfahrene Arzt sagt: „Die vielleicht größte Kunst unserer Arbeit besteht darin, dass wir aus der riesigen Masse von Kindern, die wir untersuchen, die wenigen herausfinden, die ernsthaft krank sind und rasch spezifische medizinische Hilfe brauchen.“

Ein so schwerwiegender Verlauf tritt extrem selten auf

Dies gelingt den Ärzten zu einem riesigen Prozentsatz. Es gibt aber auch Fälle, da stoßen die Ärzte an ihre Grenzen. Brügel nennt als Beispiel eine „fulminante Sepsis“, also eine Blutvergiftung, die einen rasanten und sehr schwerwiegenden Verlauf hat und bei der häufig Bakterien die Ursache sind. Dieses ganz besonders schwierige Krankheitsbild tritt im Kinder-und Jugendlichenalter immer wieder auf. Doch der Arzt relativiert im gleichen Atemzug: „Zum Glück extrem selten, sodass Eltern im normalen Alltag dies nicht als Bedrohung sehen sollten, so wie man auch nicht jeden Tag daran denkt, dass ein Kind einen Verkehrsunfall haben könnte.“

Tritt aber der schlimmste Fall ein, so äußert sich dies anfangs auch nur mit grippalen Symptomen oder solchen, die einem Magen-Darm-Infekt ähneln. Aber irgendwann beginnt die Sepsis und der Organismus bricht in rasender Geschwindigkeit zusammen. „Ich kenne keinen Kinderarzt, der nicht in seiner Ausbildung wenigstens einen solchen Fall erlebt hat und der sich ihm tief eingebrannt hat. Oftmals muss man als Arzt nur noch hilflos zusehen, wie die Infektion voranschreitet und zum Tod führt. Und deswegen ist es auch der Albtraum eines jeden Kinderarztes, dass er ein Kind untersucht, dass zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht so schlimm krank ist, dass man sofort einschreiten müsste, es dann aber in den folgenden Stunden zu einem solch heftigen schicksalhaften Sepsisverlauf kommt, dass das Kind im schlimmsten Fall stirbt.“

Das Kind wurde bereits unter Reanimationsbedingen eingeliefert

Das Rems-Murr-Klinikum verweist darauf, dass die Behandlung des Kindes vor der Einlieferung in die Notaufnahme durch die niedergelassenen Ärzte und den Rettungsdienst erfolgte. „Beides sind keine Zuständigkeitsbereiche der Rems-Murr-Kliniken. Daher können wir zu Fragen, die sich auf den Zeitraum vor Ankunft des Kindes im Klinikum beziehen, keine Aussagen treffen.“ Das Kind wurde also von einem Arzt der Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung versorgt. Eine Behandlung des Kindes von Ärzten der Kinderambulanz des Rems-Murr-Klinikums Winnenden hat nicht stattgefunden. Um Mitternacht wurde das Kind „bereits unter Reanimationsbedingungen“ in die Notaufnahme eingeliefert. „Im Schockraum starb das Mädchen nach 30 Minuten vergeblicher Wiederbelebungsversuche.“ Die Todesursache war laut Klinikum mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Infektion mit Influenza B und in der Folge Kreislaufversagen. Die Eltern haben eine Obduktion „trotz intensiver Aufklärung über die Wichtigkeit und unserer dringenden Bitte abgelehnt“, schreibt die Pressestelle des Klinikums weiter, „das übliche Vorgehen wäre die Obduktion gewesen“.

Ralf Brügel bestätigt, dass der Kinderarzt, der Simay in der Kinderambulanz behandelt hat, am Boden zerstört ist. Der niedergelassene Arzt selber erklärt schriftlich: „Ich habe die kleine Patientin nach bestem Wissen und Gewissen behandelt.“ Und in der Klinikmitteilung steht: „Wir möchten betonen, dass der Tod eines Kindes gerade auch erfahrene Kinderärzte in besonderem Maße sehr betroffen macht und haben der Familie unser tiefstes Mitgefühl zum Ausdruck gebracht.“

Simay hat am Mittwoch in der Türkei ihre ewige Ruhe gefunden.

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Erstellt:
18. Februar 2023, 06:00 Uhr

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