Korallen sterben weltweit ab
Unumkehrbar! Erster Kipppunkt der Erde ist überschritten
Die Korallenriffe sind fast verloren, der Amazonas wankt: Forscher warnen vor Domino-Effekten, die unser Leben und die Natur unumkehrbar verändern könnten.

© mago/OceanPhoto
Nord -Ari-Atoll: Malediven im Indischen Ozean.
Von Markus Brauer
Das terrestrische Klima basiert auf einem sehr fragilen Gleichgewicht: Unzählige Rückkopplungen und Wechselwirkungen sorgen dafür, dass das Erdklima in den letzten Jahrtausenden nur wenig schwankte. Das wiederum ermöglichte überhaupt erst die Entstehung der menschlichen Zivilisation, so wie wir seit in geschichtlichen Dimensionen kennen.
Kaskaden von Rückkoppelungen
Doch es gibt Kippelemente in diesem labilen System, die bei Überschreiten eines Schwellenwerts abrupt in einen neuen Zustand wechseln. Wird dieser Kipppunkt erreicht, kann dies Kaskaden von Rückkoppelungen auslösen, die das gesamte Klimasystem aus dem Gleichgewicht bringen können.
Doch wann droht das Umkippen der Systeme? Und um welche Systeme handelt es sich? Bisher können Klimaforscher die Schwellenwerte einzelner Kippelemente nur grob abschätzen. Modellsimulationen deuten aber darauf hin, dass schon eine Erwärmung um 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Bedingungen viele dieser Elemente für Jahrtausende destabilisieren könnte.
Als besonders labil gelten der Amazonas-Regenwald in Südamerika, die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis sowie die Atlantische Umwälzströmung (AMOC).
Erstes Erdsystem kippt
Jetzt schlagen Klimaforscher roten Alarm: Das erste System – die tropischen Korallenriffe – könnte seinen Kipppunkt schon überschritten haben, wie das Team um Tim Lenton von der University of Exeter im „Global Tipping Points“-Report 2025 berichtet.
Dieser nach 2023 zum zweiten Mal erstellte Report resümiert den aktuellen Zustand der Kippelemente im Erdsystem und wurde von 160 Wissenschaftlern an 87 Institutionen in 23 Ländern erstellt.
Bleaching, Melting, Slowing: New Global Tipping Points report tracks growing risks of Earth system tipping points. It highlights mounting risks, from melting glaciers, ice fields to slowing ocean currents, ice sheets & rainforests under pressure.https://t.co/apU2ATvR5gpic.twitter.com/WgBXJZkRya — Potsdam Institute for Climate Impact Research PIK (@PIK_Climate) October 13, 2025
OUT NOW: Global Tipping Points Report 2025 This report gives a temperature check on the status of dangerous Earth system #TippingPoints and opportunities in #PositiveTippingPoints across sectors.Read the full report: https://t.co/TxvyHycc6n#GTPR2025#COP30 — WHO/Europe (@WHO_Europe) October 13, 2025
Dominoeffekt des Weltklimas
Beim Konzept der Kipppunkte geht man davon aus, dass einige Teilsysteme des Klimasystems bestimmte kritische Schwellenwerte haben, bei deren Überschreiten es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommt. Deswegen sollte ein Überschreiten der Kipppunkte unbedingt vermieden werden.
Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Werden mehrere Kipppunkte überschritten, besteht zudem das Risiko eines katastrophalen Verlusts der Fähigkeit, Pflanzen für Grundnahrungsmittel anzubauen.
Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert.
Erst Bleiche, dann dauerhaftes Absterben
Den neuen Daten zufolge liegt der thermische Kipppunkt der tropischen Korallenriffe bei rund 1,2 Grad. Die aktuelle Erwärmung liegt jedoch bei mehr als 1,4 Grad gegenüber vorindustriellen Werten. Die Folge: Durch die schon jetzt grassierenden Korallenbleichen werden ein Großteil der Riffe absterben.
Lenton und seine Kollegen beziffern die Wahrscheinlichkeit für ein großflächiges, weitgehend irreversibles Absterben der Korallen auf über 99 Prozent. Dies gelte auch dann, wenn es gelänge, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.
„Unglaublich alarmierend“
„Die Ergebnisse unseres Berichts sind unglaublich alarmierend“, sagt Koautor Mike Barrett vom Word Wildlife Fund UK. „Dass tropische Korallenriffe ihren thermischen Kipppunkt überschreiten, ist eine Tragödie für die Natur und für die Menschen, die für Nahrung und Einkommen auf sie angewiesen sind. Diese düstere Situation muss ein Weckruf sein.“
Zwar könnten einzelne Riffreste auch bei weiterer Erwärmung übrigbleiben. Aber eine Regeneration der Riffe sei nur zu erwarten, wenn die Erwärmung auf ein Grad oder darunter sinke, schreiben die Forscher. Das aber ist in absehbarer Zukunft vollkommen unrealistisch.
Nächste Kippelemente könnten bald folgen
Die Korallen sind nur die Vorhut eines weiteren Dramatisierung der Klimakrise. Ihr Absterben ist lediglich das erste von mehreren Kippelementen, die in naher Zukunft in einen neuen Zustand kippen könnten.
Eisschilde: In Bezug auf die beiden untersuchten Eisschilde erklären die Wissenschaftler: Werden bei ihnen Kipppunkte erreicht, dann könnten Rückkopplungsprozesse dafür sorgen, dass deren Abschmelzen unvermeidbar wird. Die Folge wäre ein meterhoher Anstieg des Meeresspiegels.
Amazonas: Das Amazonasgebiet in Südamerika wiederum gilt als grüne Lunge des Weltklimas. Falls dort der Kipppunkt erreicht wird, der das Gebiet zu einer Savanne werden lässt, dann beeinflusse dies das gesamte Weltklima negativ.„Wenn wir jetzt nicht entschlossen handeln, verlieren wir auch den Amazonas-Regenwald, die Eisschilde und lebenswichtige Meeresströmungen. In diesem Fall stünden wir vor einem wirklich katastrophalen Ausgang für die gesamte Menschheit“, mahnt Lenton. Demzufolge liegt der Kipppunkt, ab dem der Amazonas-Regenwald zur Savanne wird, bei 1,5 bis zwei Grad Erwärmung. Durch Abholzung wird der Regenwald jedoch zusätzlich destabilisiert und könnte daher sogar noch früher umkippen.
AMOC: Teil der Atlantische Umwälzströmung (AMOC) ist der für Europa wichtige Golfstrom. Sollte dieser schwächer werden oder ganz zum Erliegen kommen, würden die Durchschnittstemperaturen in Europa deutlich sinken. Eine neue Eiszeit droht, während der Rest der Welt in einer Heißzeit schwitzt. Die AMOC und mit ihr der Golfstrom könnten schon bei einer Erwärmung von rund zwei Grad stark abschwächen oder sogar ganz zusammenbrechen. Die für Europa so wichtige „Fernheizung“ fiele damit aus – mit erheblichen Folgen für unser Klima.
„Unsere Gesellschaften sind massiv bedroht“
„Die verheerenden Folgen des Überschreitens von Klimakipppunkten bedrohen unsere Gesellschaften massiv“, konstatiert Koautor Nico Wunderling von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. „Es besteht sogar das Risiko, dass das Kippen eines Klimasystems das Kippen anderer Systeme auslöst oder beschleunigt. Dieses Risiko nimmt mit einem Überschreiten der 1,5-Grad-Marke deutlich zu.“
Dem Report zufolge reichen die aktuellen politischen und Entscheidungsprozesse nicht aus, um auf die Bedrohung adäquat und schnell genug zu reagieren. Denn schon die einfachsten Klimaschutzbemühungen stagnieren. Es gibt statt Reduktion sogar eine Steigeung der weltweiten CO2-Emissionen.
Um das Erreichen weiterer Kipppunkte zu verhindern, müsste noch schneller und drastischer gehandelt werden, mahnen die Forscher. „Das Verhindern von Kipppunkten erfordert ‚vorausdenkende‘ Klimaschutzwege, die die globale Peak-Erwärmung begrenzen und die Zeit oberhalb von 1,5 Grad Erwärmung verkürzen“, unterstreicht Manjana Milkoreit von der Universität Oslo.
Wirklich Zeichen eines Wandels?
Seit ihrer letzten Bestandsaufnahme vor zwei Jahren sehen die Forscher auch Fortschritte beim Wandel. „Es gab eine radikale weltweite Beschleunigung, darunter die Verbreitung von Solarenergie und Elektroautos. Aber wir müssen mehr tun und uns schneller bewegen, um positive Kipppunkte zu erreichen“, sagt Lenton.
Bestenfalls ergäben sich Kettenreaktionen – etwa zwischen den Bereich Energie, Verkehr und Heizen. „Wir müssen viel mehr positive Kipppunkte identifizieren und auslösen“ (mit AFP/dpa/KNA-Agenturmaterial).