Vom ersten Erzählstück bis zum Spätdruck

Die Ausstellung „Reinhold Nägele – Das grafische Werk“ lässt einen in Motivwelten, aber auch Techniken des Murrhardter Künstlers eintauchen. Vor dem Hintergrund, dass ein Werkverzeichnis entsteht, zeigt sie auch bisher unveröffentlichte Stücke und ist Plattform für die weitere Suche.

Carolin Wurzbacher vor zwei Werken Reinhold Nägeles, bei denen ein flächigeres Arbeiten und Einflüsse aus seiner Zeit in den USA aufscheinen.

© Stefan Bossow

Carolin Wurzbacher vor zwei Werken Reinhold Nägeles, bei denen ein flächigeres Arbeiten und Einflüsse aus seiner Zeit in den USA aufscheinen.

Von Christine Schick

Murrhardt. Im April vergangenen Jahres hat sich Carolin Wurzbacher an die Arbeit gemacht. Die Kunsthistorikerin hat die Aufgabe übernommen, ein Verzeichnis des kompletten druckgrafischen Werks Reinhold Nägeles (1884 bis 1972) zu erstellen, das die Stadt Murrhardt und der Freundeskreis Reinhold Nägele in Auftrag gegeben haben. „Solche Projekte nehmen oft mehrere Jahre in Anspruch“, sagt sie. Zeit ist allerdings nur bis Oktober, insofern ist sie froh und dankbar, auf die Vorarbeit und Unterstützung des Freundeskreises zählen zu können. Eine erste, wichtige Etappe ist nun die Sonderausstellung „Reinhold Nägele – Das grafische Werk“, die am Sonntag, 2. April, eröffnet wird.

In der städtischen Galerie Murrhardt werden verschiedenste, auch bisher nicht veröffentlichte Exemplare gezeigt. Die Bilder werden in die Biografie eingebettet und geben Auskunft über Motive, Lebensthemen und Techniken des Murrhardter Künstlers. Die Schau spiegelt somit die bisherige Arbeit von Carolin Wurzbacher wider, versammelt eine beeindruckende Vielfalt der grafischen Werke Reinhold Nägeles und ist gleichzeitig auch Anlass, auf die weitere Suche nach Werken aufmerksam zu machen.

Gezielte Suche nach Radierungen

Unter den Ausstellungsstücken finden sich freie, sprich unbeauftragte Radierungen sowie Serigrafien (Siebdrucke) und Exlibris. Letztere sind Drucke von Grafiken im Sinne einer Auftragsarbeit, die Besitzerinnen und Besitzern von Büchern als eine Art Visitenkarte dienten. Gleich zu Beginn der Ausstellung wird darauf hingewiesen, dass bestimmte Grafiken für das neue Werkverzeichnis gesucht werden. Von den bereits 1984 verzeichneten 34 Radierungen, die bisher noch nicht wiedergefunden werden konnten, sind im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen immerhin schon zwei Exemplare aufgetaucht und insofern mit einem grünen Punkt versehen. Eines der beiden zeigt das „Haus Sonnenhalde“ des privaten Sammlers Hugo Borst in Stuttgart. „Er hat Werke von Reinhold Nägele ausgestellt und dies auch anderen Künstlern der klassischen Moderne ermöglicht, selbst zu einer Zeit, als diese von den Nazis schon mit einem Berufsverbot belegt waren“, erzählt Carolin Wurzbacher. So wie nun der Druck, ein Geschenk an eine damalige Mitarbeiterin, wiederauftauchte, hoffen sie und Kulturamtsleiter Uwe Matti, dass sich noch andere Personen melden, die im Umfeld von Murrhardt bis hin zur Region Stuttgart beispielsweise auf solch persönlichem oder anderem Weg Stücke von Nägele erhalten haben.

Das Werk umfasst über 460 Grafiken

Exemplarisch in der Ausstellung gezeigt werden zehn bisher nicht verzeichnete Radierungen Nägeles. Diese noch undokumentierten Blätter fanden sich bei verschiedenen Privatbesitzern, aber auch in einigen öffentlichen Sammlungen wie dem Heimat- und Kunstverein Backnang – drei von ihnen sind in der Schau zu sehen –, der Staatsgalerie Stuttgart, der städtischen Kunstsammlung Böblingen und dem Literaturarchiv Marbach sowie dem Gutenbergmuseum Mainz. Zur Relation: Das grafische Werk insgesamt umfasst über 460 Radierungen, Serigrafien und Exlibris.

Es spiegelt sich der humorvoll-satirische Blick wider

Die Sonderausstellung beginnt am Anfang – mit der ersten Radierung Reinhold Nägeles, die auf seinen Freund und Lehrmeister Jakob Wilhelm Fehrle (1884 bis 1974) verweist. Dieser vermittelte Nägele 1910 die Radiertechnik bei einem mehrmonatigen Aufenthalt in München. Im Bild taucht eine schlaksige Figur mit langen Fingern auf, die den weiblichen Reizen – bildlich umgesetzt als ein auf einer Mistgabel aufgespießtes Mannsbild – erliegt. „Das ist als Selbstporträt zu verstehen und typisch für die frühen Blätter, in denen sich sein humorvoll-satirischer Blick widerspiegelt“, erläutert die Kunsthistorikerin und Kuratorin der Ausstellung. Es war die Zeit der deutschen politisch-satirischen Wochenschrift Simplicissimus, während der Nägele aber auch den Einfluss von Jugendstil aufnahm und seine Detailverliebtheit und seinen erzählerischen Stil in und mit der Radierung auskosten konnte. „Diese Technik kommt ihm da sehr entgegen. Er hat sie später auch in der Hinterglasmalerei ähnlich genutzt.“

Die Schau wirft auch Schlaglichter auf die biografischen Stationen. Fotos: Stefan Bossow

© Stefan Bossow

Die Schau wirft auch Schlaglichter auf die biografischen Stationen. Fotos: Stefan Bossow

Im ersten Teilraum werden anhand von Werken Schlaglichter auf die Lebensstationen des Künstlers geworfen. Dort, aber auch später tauchen in seinen Werken selbstbewusste, starke Frauen auf wie beispielsweise die Schauspielerin Anna Eichholz, die ihn in die Stuttgarter Boheme einführte, genauso wie Alice Nördlinger, die ihren Weg als Medizinerin und niedergelassene Ärztin in Stuttgart machte und die er 1921 heiratete. In diesem Sinne können auch die Porträts von Elfriede Mörike und Ingeborg Lebert (1927) gesehen werden.

Nägele experimentiert mit Materialien

In den nächsten Etappen lassen sich in den Radierungen weitere typische Motive ausmachen, seien es Bahnlinie, Elektrifizierung oder Industrie inklusive Arbeiterfiguren gepaart mit den narrativen Elementen und Szenerien eines magischen Realismus. Nägele nutzte die Radierung äußerst ausgiebig, bis er von 1924 an weniger radierte und 1933 schließlich die Technik gar nicht mehr nutzte. Carolin Wurzbacher vermutet, dass dabei ökonomische Gründe eine Rolle spielten, da die Herstellung im Vergleich zur Malerei aufwendig war. Zudem zeugte Nägeles Umgang mit der Technik von einem künstlerischen und weniger wirtschaftlichen Herangehen. Die Abzüge waren nicht limitiert, er druckte nach Bedarf und experimentierte mit Materialien wie Japanpapier und Seide. Zumindest bei den Exlibris konnte er von der damals in Mode gekommenen Form als Sammlerobjekte etwas profitieren. In einer Art Eigenanzeige setzte er sich ironisch als Felix Ätzwasser in Szene. Spannend ist auch die Gegenüberstellung von Früh- und Spätdrucken: Als Reinhold Nägele 1939 mit seiner jüdischen Frau Alice und den drei Kindern nach New York emigrierte, vergrub sein Neffe Hans Peter Nägele einen großen Teil der Druckplatten im Garten des Murrhardter Hauses. Beim ersten Besuch 1952 in der Walterichstadt nach Kriegsende wurden sie ausgegraben und gereinigt, nach ersten Drucken folgten später in den 1960er-Jahren Kleinstauflagen. In den USA lernte Nägele die Serigrafie und das Pochoir kennen. Pate für die Siebdrucke standen die Gemälde „Tragikkomiker“, „Komödianten“ und „The Horses Mouth“. Auch diese späte Schaffensperiode arbeitet die Schau exemplarisch auf.

Suchaufruf für die Publikation

Eröffnung Die Ausstellung wird am Sonntag, 2. April, um 11 Uhr im Heinrich-von-Zügel-Saal (Stadtbücherei), Oetingerstraße 1, in Murrhardt eröffnet. Bürgermeister Armin Mößner spricht ein Grußwort, Carolin Wurzbacher führt in die Schau ein. Weitere Infos unter www.murrhardt.de.

Buchprojekt Die Publikation „Reinhold Nägele. Das grafische Werk“ widmet sich erstmals dem gesamten grafischen Werk des Künstlers und gibt einen Überblick zu Nägeles Radierungen, Exlibris und Serigrafien. Wertvolle Grundlage bilden das Verzeichnis der Radierungen von Dieter Hannemann (in: Brigitte Reinhard: Reinhold Nägele, 1984) sowie das Werkverzeichnis der Exlibris, zusammengestellt von Thomas F. Naegele (1989). Es erscheint am 3. Oktober.

Suche Für das entstehende Werkverzeichnis werden Radierungen gesucht. Von Interesse sind unveröffentlichte Werke und bereits 1984 verzeichnete Radierungen, die aber bisher noch nicht wiedergefunden werden konnten. Eine Liste findet sich im Netz unter www.murrhardt.de/naegele.

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Erstellt:
1. April 2023, 11:30 Uhr

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