Vom Mut, ein „Pride“-Shirt anzuziehen
Wo liegen die Wurzeln der Queerfeindlichkeit, wo begegnet sie einem heute und was kann man dagegen tun? Das war Thema einer Tagung im Rahmen der CSD-Kulturwochen.

© Sven Töndle
CSD-Tagung im Lern- und Gedenkort Hotel Silber
Von Jan Sellner
Stuttgart - Die Menschen, die sich am Sonntagnachmittag im Hotel Silber treffen, sind gekommen, um „nie wieder still“ zu sein, sondern „laut für Freiheit und stark für Vielfalt“ einzutreten, wie es das Motto des diesjährigen Christopher Street Day (CSD) ausdrückt. Und das beherzigen sie bei dieser Veranstaltung auch, die den Wurzeln der Ablehnung nachspürt, die queeren Menschen heute wieder verstärkt entgegenschlägt. Diese Wurzeln reichen weit in die Geschichte zurück, und so schlagen die Vortragenden auch einen großen Bogen von der Entstehung völkischer Geschlechterideologien im 19. Jahrhundert, an die der Nationalsozialismus andockte, bis in die Gegenwart, in der rechtspopulistische Strömungen auf dieses Denken zurückgreifen. „Was tun gegen das (Wieder-)Erstarken völkischer Geschlechterideologien?“ lautete der Titel der von Ralf Bogen von der AG „Der Liebe wegen“ des Vereins Weissenburg und Thomas Stöckle, dem Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, organisierten, gut besuchten Tagung.
Die Nazis dockten an Rassenlehren an
Um darauf antworten zu können, ist es wichtig zu verstehen, woher queerfeindliche Einstellungen kommen. Thomas Stöckle verweist auf das „biologistische Denken“, das pseudowissenschaftlichen Rassenlehren und der von den Nationalsozialisten vertretenen Rassenideologie zugrunde liegt. Es versteht Gesellschaft als „Abstammungs- und Fortpflanzungsgemeinschaft“ – mit allen schlimmen, auch tödlichen Konsequenzen für Menschen, die den Normen der „Rassenhygiene“ nicht entsprechen. Sie werden aus der „Volksgemeinschaft“ ausgestoßen und zu Staatsfeinden erklärt. Stöckle erwähnt die Einweisung von Homosexuellen in Konzentrationslager und das 1933 von den Nazis verfügte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf dessen Grundlage rund 400 000 Menschen zwangssterilisiert wurden. In welche Not sich gender-nonkonforme Menschen in der NS-Zeit und auch noch danach gestürzt sahen, zeigen exemplarisch die auf der Tagung vorgestellten Biografien von Adele Haas und Toni Simon.
Und wie ist die Situation heute? Nach Jahren, in denen „die Liste unserer Forderungen immer kürzer wurde, wird sie nun wieder länger“, hört man von Tagungsteilnehmern im Hotel Silber. Die Zeiten haben sich geändert, und die Stimmung oszilliert zwischen Selbstbewusstsein und Sorge. „Die Lage ist ernst“, sagt Len Schmid von der Fachstelle gegen Antifeminismus und Queerfeindlichkeit in der von Margarette Voll und Sven Tröndle moderierten anschließenden Podiumsdiskussion. Sie erinnert an jüngste Demos von Rechtsextremen und eine AfD-Anfrage nach Geschlechtseinträgen.
Das Gefühl der Unsicherheit wächst
Auch hier in Stuttgart wächst ein Gefühl der Unsicherheit. Lars Lindauer, Vorstand der IG CSD und Mitorganisator der CSD-Parade am 26. Juli, freut sich einerseits darüber, wie positiv der Umzug in der Stadt inzwischen wahrgenommen werde. Er überlegt sich jedoch zweimal, ob er im Alltag mit einem „Pride“-Shirt S-Bahn fährt, wie er sagt. An diesem Tag hat er es nicht getan. Auch Olcay Miyanyedi hat es erst im Hotel Silber übergestreift. Er ist Aktivist für Empowerment von Menschen aus muslimischen und migrantischen Communities und auch persönlich immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert – schon wegen seines türkischen Hintergrunds. Sogar in der eigenen Community. „Ich bin nicht immer mutig“, bekennt Miyanyedi. Aber oft ist er es doch und unterstützt deshalb bewusst kleine CSD-Veranstaltungen im Land, um dort die oft fragilen ehrenamtlichen Strukturen zu stärken. Denn: „Wenn ich nichts tue, gewinnen die!“ Len Schmid rät grundsätzlich, „mutig, aber auch sicher zu agieren“ und queerfeindliche Vorfälle zu dokumentieren und zu melden.
Auch für Lars Lindauer ist „präsent sein“ ein wichtiges Mittel, um die Rechte queerer Menschen zu betonen. Lucca Ricciotti vom Verein Weissenburg unterstreicht die Notwendigkeit, „als Community zusammenzuhalten“ und Olcay Miyanyedi spricht von der Notwendigkeit, Allianzen mit Menschen außerhalb der queeren Community zu schließen, auch um gegen Angriffe gewappnet zu sein. Gefragt nach Wünschen antwortet Miyanyedi sehr konkret: „Ich wünsche mir, nach Mitternacht mit queeren Freunden vom Rotebühlplatz bis zum Hauptbahnhof gehen zu können, ohne einmal darüber nachdenken zu müssen, ob etwas passieren kann.“