Von Auswanderern und Schicksalsvorfahren – eine Stadtführung auf ukrainisch

Zwischen Murrhardt und der Ukraine gibt es kaum bekannte historische Zusammenhänge. Diese zeigt Christian Schweizer bei einer Stadtführung.

Christian Schweizer (Zweiter von rechts) hat die Ukrainerinnen und Ukrainer mit auf eine Stadtführung genommen. Foto: Elisabeth Klaper

Christian Schweizer (Zweiter von rechts) hat die Ukrainerinnen und Ukrainer mit auf eine Stadtführung genommen. Foto: Elisabeth Klaper

Von Elisabeth Klaper

Murrhardt. Großes Interesse findet die Stadtführung durchs Zentrum der Walterichstadt mit Heimatgeschichtsforscher Christian Schweizer in Kooperation mit der Volkshochschule für neue Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Ukraine. Sie sind vorwiegend aus östlichen Gebieten um Charkiw, Donezk, Luhansk, Mariupol und Berdjansk sowie dem westukrainischen Lwiw in die Walterichstadt gekommen. Als Dolmetscherin übersetzt die schon länger in Murrhardt wohnende Tatjana Wurst die Informationen in die ukrainische Sprache.

Im Fokus stehen wichtige Ereignisse der über 1850-jährigen Stadtgeschichte und bisher kaum bekannte historische Zusammenhänge zwischen der Walterichstadt und der Ukraine. Bis ins 18. Jahrhundert „war in Württemberg und Murrhardt nur wenig über die Ukraine bekannt“, berichtet Christian Schweizer. Dies änderte das 1730 veröffentlichte Buch „Reisen und Campagnen“ des Prinzen Maximilian Emanuel von Württemberg-Winnental, verfasst vom Theologen Johann Wendel Bardili, dessen Tochter die Ehefrau eines Murrhardter Pfarrers war. Nach der Schlacht bei Poltawa 1709 im Nordischen Krieg, in welcher eine überlegene russische Armee unter Zar Peter dem Großen die schwedische Armee unter König Karl XII. besiegte, kam der Prinz, Obrist eines schwedischen Dragonerregiments, in der Ukraine ums Leben.

Für Murrhardter ist der ukrainische Nationalfeiertag ein trauriges Datum

Seit 31 Jahren ist der 24. August ukrainischer Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag. Für Murrhardt erinnert dieses Datum hingegen an einen traurigen Tag, denn anno 1765 zerstörte der Stadtbrand, der in einem Haus in der heutigen Brandgasse nahe der Stadtmauer ausbrach, fast alle Gebäude der Innenstadt. Aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen wanderten Ende des 18. und im 19. Jahrhundert viele Männer und Frauen aus Murrhardt und Umgebung nach Amerika und Osteuropa aus. Einige von ihnen fuhren auf der Donau in die Küstenregionen des Schwarzen Meeres und siedelten sich in der heutigen Südukraine an.

So etwa der Murrhardter Eduard Wüst, 1818 als Sohn des „Hirsch“-Gastwirts und Bäckers geboren und 1843 Pfarrer in seiner Geburtsstadt. „Er suchte Freiheit im Glauben“, erläuterte Schweizer. 1845 ging er als Prediger in die Kolonie Neuhoffnung, heute Osypenko im Bezirk Saporischschja und Distrikt Berdjansk nahe des Asowschen Meeres. Aus seinem Wirken entstanden die sogenannten Wüst-Kreise und eine als Separatismus bekannte Pietismusvariante in verschiedenen deutschen Siedlungen und Glaubensgemeinschaften in der Südukraine. Unter den aus der Region Ausgewanderten waren auch Vorfahren von Nadeshda Sergejewna Alliuljewa, zweite Ehefrau von Josef Stalin. Ihre Urgroßmutter war die 1816 nach Georgien ausgewanderte Maria Margaretha Aichholz aus Hof und Lembach, Ortsteil von Großbottwar, das einst zum Besitz des Murrhardter Benediktinerklosters gehörte.

Wichtige Friedensgespräche haben in Murrhardt stattgefunden

„Wir in Europa müssen uns gemeinsam über die Freiheit bewusst sein. Einen Krieg zu beenden ist schwierig, aber in dem Moment, wenn nicht mehr geschossen wird, ist es ganz wichtig zu überlegen: Wie kommt unser Land wieder auf die Beine, damit die Bevölkerung wieder in Frieden und Freiheit leben kann? Für Deutschland war dieser Moment in Murrhardt“, unterstreicht Schweizer. Denn nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs trafen sich „alte Demokraten“ am 20. Juni 1945 im bekannten Gasthof „Sonne-Post“ zur Landrätekonferenz, die als „Sternstunde“ des demokratischen Neubeginns gilt. In guten Gesprächen erörterten sie Lösungen für die dringendsten Probleme Wiederaufbau und Versorgung der Bevölkerung. Darunter waren drei bedeutende Persönlichkeiten: Theodor Heuss, von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident, Eugen Gerstenmaier, Bundestagspräsident von 1954 bis 1969, und Reinhold Maier, 1952 erster Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

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Erstellt:
26. August 2022, 06:00 Uhr

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