Von der Stadt in den 14-Seelen-Weiler

Leben auf dem Land Für Städter, die aufs Land ziehen, ist der Neuanfang oft nicht einfach. Je kleiner der Ort ist, desto enger die Gemeinschaft, in die die Neuen hineinfinden müssen. Für Familie Prestel war der Umzug genau das Richtige.

Luise Prestel sitzt mit Tochter Nike im Wohnzimmer ihres umgebauten Bauernhauses im Sulzbacher Weiler Eschenstruet, das sie und ihr Mann Stefan 2016 gekauft haben. Fotos: A. Becher

© Alexander Becher

Luise Prestel sitzt mit Tochter Nike im Wohnzimmer ihres umgebauten Bauernhauses im Sulzbacher Weiler Eschenstruet, das sie und ihr Mann Stefan 2016 gekauft haben. Fotos: A. Becher

Von Melanie Maier

Sulzbach an der Murr/Aspach. Die Straße zum Haus von Luise und Stefan Prestel führt, von Backnang kommend, durch den Wald hinter Sulzbach an der Murr steil nach oben. Sie windet sich ohne Leitlinie erst an Tannen, dann an Bauernhöfen und Wiesen vorbei, bis zur ersten Kurve im Sulzbacher Weiler Eschenstruet. Direkt hinter der Bushaltestelle, da, wo morgens der Schulbus hält, befindet sich das Bauernhaus aus dem Jahr 1789, das die Familie Prestel seit mehr als drei Jahren ihr Zuhause nennt. Der Blick auf den Wald, aus dem der Nebel steigt, ist postkartenschön. Gegenüber ist ein Hof mit Milchvieh. Die Kälbchen schauen neugierig, wer aus dem Auto steigt. Zur Türklingel bellt ein Hund.

Luise Prestel öffnet die Eingangstür mit ihrer einjährigen Tochter Nike auf dem Arm. Der vierjährige Otis lugt mit einem Stift in der Hand neben dem Knie der Mama vorbei. Im Wohnzimmer hilft seine Oma ihm, seine blau-rote Spiderman-Zeichnung auszuschneiden. Die 65-jährige Annemarie Prestel wohnt zwar nicht im Haus, ist aber oft zu Besuch. „Wir haben viel Platz hier“, sagt Luise Prestel. „Das ist Gold wert.“

„Dort wussten wir nur, wie die Nachbarn heißen, hier kennen wir natürlich alle“

2016 kauften die 36-Jährige und ihr Mann Stefan, 43, das Bauernhaus im Weiler Eschenstruet, dessen Einwohnerzahl sich mit ihrem Einzug ein Jahr später von 14 auf 16 erhöhte (heute sind es wieder 14). Vorher wohnten die beiden, damals noch ohne Kinder, in Bruchsal, 45000 Einwohner, rund 20 Kilometer nördlich von Karlsruhe. Zuerst in einer Zweieinhalbzimmerwohnung in der Stadtmitte, später in einem Reihenhaus am Ortsrand. „Dort wussten wir nur, wie die Nachbarn heißen“, sagt Luise Prestel. „Hier kennen wir natürlich alle.“Wegen ihrer drei Pferde, die sie bis dahin in einem Stall eingestellt hatten, wollten sie sich etwas Eigenes kaufen. Es dauerte, bis sie eine geeignete Immobilie fanden. „Alles, was wir gesehen haben, war entweder zu klein, zu teuer oder baufällig“, erinnert sich Luise Prestel. „Deshalb haben wir unseren Suchradius erweitert.“ Von ihrem jetzigen Haus war sie erst nicht besonders angetan – nicht wegen der Lage, sondern weil viel zu tun war. Ein Jahr dauerte es, das Gebäude kernsanieren zu lassen, Deckenböden und Wände zu entfernen, zu spachteln und zu streichen. 2017 konnten sie einziehen.

Die Umstellung vom Stadt- auf das Landleben fiel Luise und Stefan Prestel nicht schwer. „Aber ich glaube, das liegt auch daran, dass wir uns beide aktiv dafür entschieden haben“, sagt die Tierärztin, die momentan in Elternzeit ist. „Wir finden es positiv, nur wenige Nachbarn zu haben und drumherum viel Platz.“ Durch die Pferde, sagt sie, haben sie und ihr Mann schnell Anschluss zu Gleichgesinnten im Nebenort gefunden. Mit anderen Nachbarn gehen sie oft spazieren. „Wir sind hier wirklich sehr gut aufgenommen worden.“ Das liege zum einen am Umfeld, zum anderen aber auch an der eigenen Einstellung, sagt Stefan Prestel: „Ob man sich in so einem kleinen Ort wohlfühlt oder nicht, steht und fällt mit der Bereitschaft, sich auf die neuen Gegebenheiten einzulassen.“

Im Heuschober springt der vierjährige Otis gerne von einem Heuballen zum anderen.

© Alexander Becher

Im Heuschober springt der vierjährige Otis gerne von einem Heuballen zum anderen.

Kurz nach dem Umzug wurde er von den Nachbarn angesprochen, ob er Lust hätte, sich im örtlichen Abwasserverband zu engagieren. Mittlerweile ist er dessen Vorstand. „Da muss man mitschwimmen“, sagt Stefan Prestel. „Wenn man auf so etwas keine Lust hat, ist man in dieser ländlichen Gegend fehl am Platz.“ Stefan und Luise Prestel haben Lust, sie fühlen sich als Teil der Ortsgemeinschaft. Die Nachteile, die ihnen durch den Wegzug von der Stadt entstanden sind, die nehmen sie gern in Kauf. Aus ihrer Sicht sind sie auch gut verkraftbar. Die ersehnte Putzkraft haben sie noch nicht gefunden, sagt Luise Prestel: „Hier will natürlich niemand hochfahren.“ Dass im Ort keine anderen Kinder sein würden, war ihnen schon vor dem Umzug bewusst. Der nunmehr drittjüngste Einwohner Eschenstruets ist 16 Jahre alt. Dass Kulturangebote wie Theater und Kino ein Stück weiter weg sind, ist der Familie momentan nicht so wichtig. „Mit zwei kleinen Kindern und Corona hätten wir das sowieso nicht oft in Anspruch genommen“, erklärt Luise Prestel nüchtern. „Wenn es wieder möglich ist, sind wir aber auch nicht scheu, ins Auto zu sitzen und nach Backnang oder Stuttgart zu fahren.“ Dass man für jede noch so kleine Strecke ins Auto steigen müsse, das sei allerdings ein kleiner Nachteil, räumt Luise Prestel ein. Zu ihrem Arbeitsplatz in Kernen im Remstal sind es ungefähr 45 Minuten Fahrtzeit, bei Stefan Prestel dauert der Weg zur Arbeit sogar noch ein paar Minuten länger. Er ist Projektleiter bei Porsche in Zuffenhausen. „Für uns ist das aber kein großes Problem“, sagt Luise Prestel. „Man muss halt flexibel bleiben und das Beste daraus machen. Auf dem Heimweg kann ich zum Beispiel Bekannte besuchen oder kurz einkaufen.“

Auch nach inzwischen fast fünf Jahren auf dem Land überwiegen für sie die Vorteile: Dass Otis auch mal draußen im Hof spielen kann, ohne dass zwingend ein Erwachsener dabei sein muss. Dass sie am Sonntag Rasen mähen können, wenn ihnen danach ist, oder ein Lagerfeuer anzünden, wenn Freunde sie besuchen. „Wir haben viel mehr Freiheit, Ruhe und Entschleunigung“, fasst Stefan Prestel zusammen. Samstags halte der Bäckerwagen direkt vor der Tür. Sogar das Internet sei teils besser als bei Freunden in der Stadt. Und es soll noch schneller werden: Im kommenden Jahr wird in Eschen-struet Glasfaserkabel verlegt. „Dann kommt die Turboleitung!“, freut Stefan Prestel sich. Die könnte er zurzeit, im Homeoffice, gut gebrauchen. Die Ruhe zum Arbeiten hat er auf alle Fälle. „Wenn nachts mal ein Auto an unserem Haus vorbeifährt, schrecken wir aus dem Schlaf hoch“, berichtet er. „Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, an einer viel befahrenen Straße oder dicht an dicht mit anderen zu wohnen.“ Nicht zuletzt sei der Zusammenhalt im Weiler viel größer als in der Stadt, ergänzt Luise Prestel: „Als mein Auto mal kaputt war, hat mir der Nachbar einfach seins geliehen. Und wenn wir vergessen, die Mülltonne rauszustellen, erinnern uns die anderen daran. Natürlich geben wir auch Bescheid, wenn wir eine Woche in den Urlaub fahren.“

„Jetzt stehen Pferde vor meiner Haustür“

Ganz ähnlich erlebt das Tim Düren. „Die Nachbarn stellen schon mal die Mülltonne für einen raus, wenn man nicht dran denkt, oder nehmen Pakete für einen an. Viele denken, das sei selbstverständlich, aber das ist es nicht!“, betont der Abwehrchef des HC Oppenweiler/Backnang. Tim Düren ist im Hamburger Stadtteil Wandsbek aufgewachsen. Seinen ersten Vertrag als Profispieler bekam er in Berlin. 2019 wechselte er zum HCOB. In Aspach hat der heute 23-Jährige eine Wohnung in einem Vierparteienhaus gefunden. Der Umzug von der 3,7-Millionen-Einwohner-Metropole aufs Land war für ihn durchaus mit einem kleinen Kulturschock verbunden: „In Berlin habe ich quasi jede Nacht fünf türkische Hochzeiten miterlebt, jetzt stehen Pferde vor meiner Haustür.“ Obwohl die Hauptstadt für ihn nicht die richtige Wahl war – „viel zu groß und zu bunt, völlige Reizüberflutung, zu viele verrückte Leute“ –, musste der Handballer sich an den neuen Lebensstil erst gewöhnen. Mittlerweile sieht er aber mehr Vorteile. In Berlin-Mitte konnte er zwar noch um 5 Uhr früh im Späti einkaufen, in Großaspach weiß er das gute Brot vom Bäcker zu schätzen. „Es hat ein oder zwei Jährchen gedauert, bis ich mich akklimatisiert habe“, sagt er. „Aber jetzt bin ich angekommen.“ Als HCOB-Spieler werde er im Ort auch oft gegrüßt. „Das ist eine schöne Art von Wertschätzung, das kennt man aus der Großstadt nicht.“

Nichtsdestotrotz zieht es Düren nach Hamburg zurück. Nicht aus sportlichen, sondern aus persönlichen Gründen. Er vermisst seine Familie, die Stadt: „Hamburg hat für mich die perfekte Größe.“ Aspach sei schon etwas klein auf Dauer, findet der 23-Jährige. Langfristig möchte er zwar nicht mitten in der Stadt leben, sondern eher im Hamburger Umland. Aber auf jeden Fall mit S-Bahn-Anschluss, das ist ihm wichtig. Das Leben auf dem Land ist eben nicht für jeden Stadtmenschen die Lösung.

Von der Stadt in den 14-Seelen-Weiler

„Es hat ein oder zwei Jährchen gedauert,
bis ich mich
akklimatisiert habe.“

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Erstellt:
11. Dezember 2021, 11:00 Uhr

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