Von ganz unten nach oben und jetzt sterben

Günther Dretzke war einst schwer alkoholabhängig und hat mit enormer Willenskraft sein Leben wieder auf die Reihe bekommen. Nun ist der 80-Jährige Gast im Backnanger Hospiz und blickt zufrieden auf sein Leben zurück: „Trotz allem war’s gut, ich kann stolz auf mein Leben sein.“

Günther Dretzke (links) hat seinen Frieden gefunden. Heinz Franke ist von dessen Willensleistung nachhaltig beeindruckt. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Günther Dretzke (links) hat seinen Frieden gefunden. Heinz Franke ist von dessen Willensleistung nachhaltig beeindruckt. Foto: Tobias Sellmaier

Von Matthias Nothstein

Backnang. Die Diagnose ist eindeutig: Darmkrebs im Endstadium. Günther Dretzke hat nicht mehr viele Tage zu leben. Aber er hat viel zu erzählen. Als Alkoholiker war er einstens ganz tief unten im Sumpf. Er hat sich aus eigener Kraft aufgerafft und sein aus den Fugen geratenes Leben wieder in den Griff gekriegt. Heute sagt er voller Überzeugung: „Trotz allem war’s gut, ich kann stolz sein auf mein Leben.“

Das unterstreicht auch Heinz Franke. Der geschäftsführende Vorstand des stationären Hospizes in Backnang kennt Dretzke seit dem Jahr 1976, als er als pädagogischer Betreuer der Heimbewohner in der Erlacher Höhe gearbeitet hatte, damals hieß diese noch Arbeiterkolonie Erlach. Sehr oft musste Franke den sturzbetrunkenen Heimbewohner aus dem Straßengraben auflesen. Und er ist heute noch nachhaltig beeindruckt, wie Dretzke es mit einer „wahnsinnigen Willensleistung“ geschafft hat, sein Leben umzukrempeln. Der einstige „Penner“, so bezeichnete er sich selber, wurde nicht nur trocken, sondern er hörte auch mit dem Rauchen auf, trotz seines üblichen Konsums von 50 Zigaretten täglich. Dretzke erhielt 1979 sogar eine Anstellung bei der Erlacher Höhe in der Holzwerkstatt, zog in eine eigene Wohnung, kaufte sich erst einen Roller, dann ein Auto und machte eine Ausbildung zum Arbeitserzieher. In der Holzwerkstatt, die alle nur Kistenbude nannten, war er noch viele Jahre der stellvertretende Leiter, bevor er 2004 in den Ruhestand ging.

Ein Vorbild für viele Bewohner der Erlacher Höhe

Der Kontakt mit Heinz Franke riss nie wirklich ab, wurde mit den Jahren aber weniger. Vor wenigen Wochen meldete sich Dretzke aus dem Aalener Hospiz. Er sei nach einer Operation im Diak-Klinikum Schwäbisch Hall nun Gast im örtlichen Hospiz, möchte aber zum Sterben zu seinem alten Mentor ins Backnanger Hospiz wechseln. Franke wurde sofort aktiv. Eine Woche später zog Dretzke in den zweiten Stock des Hospizes auf dem Areal des ehemaligen Backnanger Kreiskrankenhauses ein.

Dort lebt er nun bestens versorgt seine letzten Tage. Nahezu täglich besucht ihn Franke, der von Dretzke voller Hochachtung spricht. „Es schließt sich nun ein Kreis. Ich habe ihn vor 47 Jahren als einen Menschen ohne jede Perspektive kennengelernt. Dann hat er die Kurve gekriegt und wurde zum Vorbild für viele andere Bewohner der Erlacher Höhe.“ Franke verspricht dem Mann, dass er an seiner Seite bleiben wird „bis zum Schluss“. Der Sterbende schätzt dies. Er hatte nie eine wirkliche Familie: „Welche Frau will schon einen Kerl, der dauernd besoffen ist?“

Seine Mutter war lange die einzige Bezugperson

Dretzke wurde 1942 in Westpreußen geboren und musste im Alter von zweieinhalb Jahren mit seiner Mutter und drei Brüdern vor der Roten Armee nach Westen fliehen. Während der Vater an der Ostfront kämpfte, zog die Mutter mit ihren vier Buben von einer Unterkunft zur nächsten. Ständige Umzüge prägten die Kindheit von Günther Dretzke, der stotterte, zweimal nicht versetzt wurde und ein schlechter Schüler war. Wann immer er glaubte, irgendwo angekommen zu sein, ging es kurz danach wieder weiter. Die einzige Bezugsperson war seine Mutter; den Vater sah er zweimal, das letzte Mal bei seiner Konfirmation.

Als die Mutter einen Schlaganfall erlitt und in ein Pflegeheim kam, drehte sich die Spirale nach unten immer schneller. Erst hing er an der Flasche, dann verlor er die Arbeit, dann sein Zuhause. Er schlief in Abbruchhäusern und unter Brücken, „ich habe alle Leiden eines Außenseiters durchlebt“, fasst er im Rückblick diese Phase seines Lebens zusammen. Im Frühjahr 1975 war er zu Fuß von Düsseldorf in den Süden unterwegs, als er eher zufällig am Karsamstag im Heim für obdachlose Männer in der Kolonie Erlach unterkam. Da es im Heim keinen Alkohol gab, pilgerten die Bewohner täglich nach Liemersbach, wo Dretzke zuweilen so viel Bier in sich hineinschüttete, dass er den Weg nicht mehr zurückfand.

Über die Hasenzüchtung eine Verbindung aufgebaut

Heinz Franke führte viele Gespräche mit ihm und schaffte es, eine Beziehung aufzubauen. Er weiß heute noch, über welches Thema dies erstmals gelang: Hasen. Solche hatte Dretzke früher gezüchtet. Ein Thema, bei dem Franke mitreden konnte. Am 31. Mai 1977 war es so weit: Dretzke trank sein letztes Bier. Der Beweggrund war völlig unspektakulär, der Süchtige sagte sich einfach: „Du trinkst keinen Alkohol mehr.“ Punkt. Vorausgegangen war der Besuch einer Heilstätte und die Einsicht, dass seine Tage in Erlach gezählt wären, wenn er so weitermachen würde. Und die vielen Gespräche mit Mitarbeitern, vor allem mit seinem Mentor Heinz Franke. Eine Therapie wollte Dretzke auf keinen Fall machen, er sagte zu sich: „Mit dem Trinken aufhören musst du selber wollen, da kann dir keiner dabei helfen.“

Dretzke ging seinen Weg. Er rückte nicht nur zum Vizechef der Kistenbude auf, er betreute auch die Bücherei der Erlacher Höhe. Die Abschlussarbeit im Rahmen seiner sonderpädagogischen Ausbildung zum Arbeitserzieher hatte sein eigenes Leben zum Inhalt und wurde bestens bewertet. Sein Engagement für all jene, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, wurde mit dem Goldenen Kronenkreuz der Diakonie gewürdigt. Und die Erlacher Höhe erklärte ihn zum Ehrenbürger.

Nun macht sich große Gelassenheit breit. Günther Dretzke formuliert es so: „Ich weiß, dass ich nach dem Tod weiterlebe, nur halt auf eine andere Art.“

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Erstellt:
18. März 2023, 06:00 Uhr

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