Vorgeschichte lässt sich nicht erhellen

Prügelattacke-Verfahren: Einer der Angeklagten sagt zum ersten Mal aus und bietet seine ganz eigene Version des Geschehens

Es sind zwei Kulturen, die am fünften Verhandlungstag vor dem Landgericht aufeinanderprallen. Drei Brüder im Alter von 19, 24 und 25 Jahren sind wegen räuberischer Erpressung angeklagt (wir berichteten). Wer hat bei der Flucht aus Syrien wann an wen Geld gezahlt? Auch in der fünften Runde bringen die Aussagen nur wenig mehr Licht ins Dunkel.

Den Angeklagten werden Prügelattacken vorgeworfen. Symbolfoto: Imago

Den Angeklagten werden Prügelattacken vorgeworfen. Symbolfoto: Imago

Von Hans-Christoph Werner

BACKNANG/STUTTGART. Da ist zum einen die orientalische Kultur des Erzählens. Gern wird weit ausgeholt, die Umstände werden breit erzählt, bevor es an die Beantwortung der eigentlichen Frage geht. Da ist zum anderen die Kultur eines Strafprozesses, in dem die genauen Fakten des Geschehens erhoben werden sollen. Wer hat wann was gesagt oder getan?

Eine 39-jährige Hausfrau wird in den Zeugenstand gerufen. Ihre Söhne sollen die Leidtragenden der Prügelattacken der Angeklagten gewesen sein. Aber das, was sich in Backnang und Umgebung an Versuchen, Geld einzutreiben, zugetragen hat, ist nur anhand der Vorgeschichte zu verstehen. Und diese Vorgeschichte hat mit der Flucht der Beteiligten aus ihrem Heimatland Syrien zu tun.

Im Dezember 2015 ist die Hausfrau mit dem jüngsten Kind, einem siebenjährigen Sohn, nach Deutschland gekommen. Drei weitere Söhne ließ sie in Syrien zurück. Angeblich, weil die Finanzen nicht für eine gemeinsame Flucht reichten. Die Heranwachsenden mussten ihre Flucht selbst in die Hand nehmen.

In Deutschland angekommen lag es der Mutter am Herzen, die Flucht ihrer weiteren Kinder so gut wie möglich zu unterstützen. Bekanntlich gibt es andere Menschen, die an denen, die da über die sogenannte Balkanroute unterwegs sind, gewaltig verdienen. Die Mutter zahlte für sich und ihren Jüngsten 1500 Euro. Wobei die Preise offenbar sehr schwanken und auch nicht ganz klar ist, ob sich die Summe auf die ganze Fluchtstrecke erstreckt oder nur auf einen Teilabschnitt.

An Abu J. kommt man auf der Flucht scheinbar nicht vorbei

Ein anderer Sohn der Mutter, der als Nächster eintraf, zahlte 1200 Euro. Und dann muss man auch in Bosnien, Kroatien oder Slowenien an die richtigen Leute geraten. Am häufigsten wird der Name eines gewissen Abu J. genannt, der offenbar der Strippenzieher in Bosnien ist und dort den Markt beherrscht. An ihm kommt man scheinbar nicht vorbei.

Vermutlich haben sich nun zwei der Angeklagten entweder an den Geschäften dieses Abu J. beteiligt oder sind als dessen Mittelsmänner aufgetreten. Vielleicht haben sie aber auch nur für einen der Söhne der Mutter gebürgt: Das Geld werde schon kommen. Aus Deutschland. Denn da bekommt man ja Geld. Eine andere Zeugin will mitbekommen haben, dass die Mutter eine Mietzahlung für die Flucht eines Sohnes verwendet habe. Aber nun soll es der reiche Onkel aus Saudi-Arabien gewesen sein.

Und wie war’s bei den zwei weiteren Söhnen der Hausfrau? Die Vorsitzende Richterin insistiert auf ihren Fragen: Wer hat wann an wen Geld gezahlt? Und gab es da Mittelsmänner, die für Abu J. auftraten? Oder hat sie sogar selbst mit Abu J. telefoniert und sich in die Sache eingeschaltet? Wenn die Fragen ganz konkret werden, wird die Mutter weitschweifig.

Lustig wippen ihre langen kastanienbraune Haare. Und die Hände unterstreichen das Gesagte. Deutlich steigt ihr Sprechtempo an, und der Dolmetscher hat Mühe, hinterherzukommen. Wenn die Richterin dann hartnäckig auf einem Detail beharrt, ist es plötzlich aus dem Erinnerungsvermögen verschwunden. Oder es kommt die Antwort: „Das weiß ich nicht.“ Als einer der Söhne mit einer gebrochenen Nase von einer „Konferenz“ mit den Angeklagten kommt, will sie nicht gefragt haben, was denn passiert sei. Weil man sich doch selbst in Familien nicht alles erzählt.

Mit Spannung wurden am fünften Verhandlungstag auch die Einlassungen von zwei der drei Angeklagten erwartet. Beziehungsweise war auch von Verteidigererklärungen die Rede gewesen. Samir (Name geändert) macht den Anfang. Aber er redet „im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Gnädigen“ nicht von dem, was ihm vorgeworfen wird. Nein, er echauffiert sich über die Lügen, die er sich im Laufe des Verfahrens anhören musste. Er bietet nun seine eigene Version. Der Sohn der zuvor vernommenen Hausfrau, der als Zweiter in Deutschland ankam, versprach Geld zu schicken. Und dabei hätten sich beide auf die Brust geklopft, was so viel heißen will: Dieses „Männerwort“ gilt. „Bei Allah, dem Barmherzigen.“ Und dass ein anderer Sohn der Hausfrau beim Vorsprechen der drei Brüder wegen der ausstehenden Summe plötzlich mit einem gebrochenen Nasenbein zurückkam, das muss passiert sein, weil jener stürzte.

Hausfrau hat den ältesten Bruder zum Shisha-Rauchen eingeladen

In einer früheren Verhandlungssitzung hatte die Richterin gefragt, warum man die Geldforderung nicht gemütlich bei einer Tasse Tee erörtert hätte. Samir weiß nun plötzlich davon, dass die Hausfrau den ältesten der drei Brüder zum Shisha-Rauchen eingeladen habe. Dazu ist es bedauerlicherweise nicht gekommen.

Über dem ausführlichen Erzählen ist der Vormittag überraschend schnell vergangen. Nur einer der Angeklagten kann gehört werden. Fortsetzung folgt am nächsten Verhandlungstag.

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Erstellt:
5. Dezember 2019, 11:00 Uhr

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