Lichtblick für Libyen: Waffenstillstand unterzeichnet

dpa Genf. Seit Jahren versinkt Libyen im Chaos zwischen rivalisierenden Lagern. Jetzt haben Militärvertreter in Genf einen entscheidenden Schritt Richtung Frieden gemacht.

Stephanie Williams, amtierende Sonderbeauftragte des Generalsekretärs und UN-Sondergesandte für Libyen. Foto: Martial Trezzini/KEYSTONE/dpa

Stephanie Williams, amtierende Sonderbeauftragte des Generalsekretärs und UN-Sondergesandte für Libyen. Foto: Martial Trezzini/KEYSTONE/dpa

Für Millionen Libyer ist es nach Jahren mit Chaos, Bürgerkrieg und Elend ein Lichtblick: Die rivalisierenden Seiten des Bürgerkriegs haben am Donnerstag in Genf einen Waffenstillstand unterzeichnet.

Er gilt landesweit, ab sofort und ohne zeitliche Beschränkung, vereinbarten die Militärabgesandten der von den UN anerkannten Regierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch und des abtrünnigen Generals Chalifa Haftar. Nach Angaben der UN-Beauftragten für Libyen, Stephanie Williams, müssen ausländische Militärs und Milizen „aus sieben bis neun Ländern“ Libyen nun innerhalb von drei Monaten verlassen.

In Europa ist das nordafrikanische Libyen vor allem als Transitland für Migranten bekannt, die per Boot nach Europa gelangen wollen. Sowohl für Hunderttausende Migranten als auch für die rund sieben Millionen Libyer ist die Lage verheerend: Mindestens 400.000 Menschen sind durch die seit fast zehn Jahren dauernden Kämpfe vertrieben worden. Die Bevölkerung leidet unter den katastrophalen Folgen des Konflikts. Es fehlt an Strom, Trinkwasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Das Coronavirus beutelt das ohnehin schon überlastete Gesundheitssystem zusätzlich. Südlich der Hauptstadt Tripolis sind zwischen Mai und September nach UN-Angaben 66 Menschen durch Landminen ums Leben gekommen und 117 verletzt worden.

In dem nordafrikanischen Land tobt seit dem mit westlicher Hilfe erfolgten Sturz des Langzeitherrschers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 ein Bürgerkrieg. Die international anerkannte Sarradsch-Regierung mit Sitz in der Hauptstadt Tripolis ringt dabei mit Haftar und einem Gegenparlament in Tobruk im Osten Libyens um die Macht. Auch innerhalb der jeweiligen Lager gibt es Konflikte. Befeuert wird der Konflikt von ausländischen Staaten, die Waffen, Söldner und andere Ausrüstung ins Land schicken. Alle internationalen Bemühungen, den Konflikt beizulegen, blieben bisher erfolglos.

Williams sprach von einem Moment, der in die Geschichte eingehen werde. „Ich hoffe, diese Vereinbarung setzt dem Leiden des libyschen Volkes ein Ende“, sagte sie. Die Unterhändler hatten sich in den vergangenen Tagen bereits auf Modalitäten für die Ölförderung geeinigt, um die Produktion wieder ausweiten zu können.

Die Vereinbarung werde „das Blutvergießen in Libyen beenden und den militärischen Konflikt stoppen“, sagte Regierungsvertreter Ahmad Ali Abushahma: „Genug Leid, genug Blut, genug Spaltung.“ Die Regierung wird von der Türkei unterstützt. Im ARD-„Mittagsmagazin“ vom Freitag berichteten syrische Söldner, sie seien unter falschen Versprechungen als Söldner von der Türkei für den Kampf in Libyen angeworben worden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan äußerte sich skeptisch, ob die Vereinbarung halten werde. Sie sei ja nicht von höchster Stelle unterzeichnet worden, meinte er am Freitag. Er sei auch nicht sicher, ob russische Söldner der Wagner-Gruppe abziehen würden. Russland ist neben Ägypten und den Arabischen Emiraten Unterstützer der Haftar-Truppen. „Wir sind zufrieden mit dem, was erreicht wurde“, sagte der Leiter der Haftar-Delegation, Amhimmid Mohammed Alamami.

Die EU begrüßte die Einigung. Sie sei ein Schlüsselelement für die Wiederaufnahme des politischen Friedensprozesses und diese wiederum Vorbedingung für die zugesagte EU-Unterstützung, sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel. Für die EU ist eine Lösung des Konfliktes auch deshalb wichtig, weil die chaotischen Zustände in dem Land das Geschäft von Schlepperbanden begünstigen, die Migranten illegal über das Mittelmeer nach Europa bringen.

Wie aus dem Schweigen der Waffen ein dauerhafter Frieden werden soll, soll Thema politischer Gespräche ab dem 9. November in Tunesien sein. Sie sollen eine Einheitsregierung und ein Kabinett hervorbringen, die im ganzen Land anerkannt werden. An den Gesprächen sollen auch Vertreter von Minderheiten, Frauen und junge Leute teilnehmen, wie Williams betonte. Die Genfer Gespräche bestritten je fünf Militärvertreter beider Seiten. Deshalb hießen sie 5+5. Das Format war bei der Berliner Libyen-Konferenz im Januar vereinbart worden.

Außenminister Heiko Maas (SPD) begrüßte die Einigung. „Das Waffenstillstandsabkommen verspricht endlich einen Kurswechsel von der militärischen zur politischen Logik“, teilte er mit. „Libyen ist noch nicht am Ziel, hat aber eine wichtige Hürde Richtung Frieden genommen.“ Er rief andere Länder auf, die libyschen Friedensbemühungen nun uneingeschränkt zu unterstützen und jegliche weitere Einmischung zu unterlassen.

Ob die jetzige Vereinbarung hält und Frieden bringt, bleibt abzuwarten. Die Kriegsparteien hatten sich Anfang des Jahres schon einmal auf einen Waffenstillstand geeinigt, der schnell gebrochen wurde. Im August gab es einen erneuten Anlauf für eine Waffenruhe, die damals allerdings beide Seiten separat für sich verkündet hatten. Die Genfer Vereinbarung diene nun der Vertrauensbildung und Stabilitätssicherung vor den Gesprächen in Tunesien, sagte der Gründer der Denkfabrik Sadeq-Institut in Tripolis, Anas al-Gamati.

© dpa-infocom, dpa:201023-99-53123/4

Seit Jahren versinkt Libyen im Chaos zwischen rivalisierenden Lagern. Jetzt soll ein Waffenstillstand gelten. Foto: Hussein Malla/AP/dpa/Archiv

Seit Jahren versinkt Libyen im Chaos zwischen rivalisierenden Lagern. Jetzt soll ein Waffenstillstand gelten. Foto: Hussein Malla/AP/dpa/Archiv

Zum Artikel

Erstellt:
23. Oktober 2020, 11:44 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen