Wahl in der Ukraine: Erdrutschsieg für Komiker

Fernsehstar Wladimir Selenski wird ukrainischer Präsident – Wie wurde der Rekordsieg möglich?

Bei der Wahl am Ostersonntag bekam der Oppositionskandidat fast dreimal mehr Stimmen als der Amtsinhaber. Die Wahl zeigt eine demokratische Reife im Land – und eine tiefe Krise der Politik.

Moskau Als der Sieger auf die Bühne kommt, in einer schicken Sportbar in Kiew, ertönt das Lied „Ich liebe mein Land, liebe meine Frau, liebe meinen Hund“. Es sind die Anfangszeilen der Titelmelodie aus der TV-Serie „Diener des Volkes“. Der Serie, die eine Art Blaupause liefert für das, was in der Ukraine derzeit geschieht. Ein Mann, der mit Politik bisher nichts am Hut hatte, gewinnt haushoch die Wahl zum Präsidenten und versöhnt sein Volk mit dieser Politik, nein, er führt gar eine neue ein. Der Mann in der Serie heißt Wassili Goloborodko, ist einfacher Geschichtslehrer, der noch bei seinen Eltern in einer typischen, sowjetisch anmutenden Wohnung wohnt.

Der Mann in der Realität heißt Wladimir Selenski, der mit der Serie rund um Wassili Goloborodko und seiner politischen Satire bekannt wurde – und nach einem geradezu dramatischen Wahlkampf am Ostersonntag nun genau das sein darf, was sein fiktiver Lehrer seit bald vier Jahren im Fernsehen ist: Präsident der Ukraine. Mit 73 Prozent der Stimmen, so vielen wie noch nie in der Geschichte der unabhängigen Ukraine, überholte er scheinbar leichtfüßig den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der auf 24 Prozent der Stimmen kam.

Das ukrainische Experiment hat begonnen. Der neue Präsident zog sich am Tag nach der Wahl erst einmal zurück – zum Ausschlafen. Das Begleitlied zur Wahlparty Selenskis zeigt den Stil des Neupräsidenten: ein wenig Ironie, viel Beschwingtheit, keine Verbissenheit. Es vermittelt ein gutes Gefühl, eine positive Stimmung. Genau das, worauf der 41-jährige Komiker aus dem Südosten der Ukraine während es Wahlkampfs setzte. Eine Politik ohne Politiker. Ohne den ganzen Schmu, den ein System, zumal in der Ukraine, mit sich bringt. Er setzte auf die Ehrlichkeit, sympathische Art und den Fleiß seines Goloborodko – und kaum auf Inhalte.

Außer, dass die Westanbindung der Ukraine auch für Selenski ein unumstößlicher Fakt ist, weist sein auf vier Seiten passendes Programm wenig Konkretes auf. Seine Maximalforderung: Es muss alles anders werden. Eine Forderung, die im Verdruss über Poroschenko und die politische Elite funktionierte und Ost wie West, Jung wie Alt, Reich wie Arm vereinigte. Lediglich in der Region Lwiw konnte Poroschenko punkten.

Überall anders wurde Selenski zu einem unangefochtenen Sieger. Doch die Wahl des Entertainers zeigt keineswegs die Begeisterung der Ukrainer für Selenski. In erster Linie zeigt sie die große Ablehnung gegenüber Poroschenko und seiner Politik. „Ich bin das Ergebnis Ihrer Fehler“, hatte Selenski beim einzigen öffentlichen Aufeinandertreffen mit Poroschenko im Kiewer Olympiastadion selbst gerufen.

Für ein postsowjetisches Land ist diese Wahl eine kleine Sensation. Trotz der schmutzigen Wahlkampagne, in der sich die Kandidaten nichts schenkten, herrscht in der Ukraine ein echter politischer Wettbewerb. Noch in der Wahlnacht gratulierte der Verlierer Poroschenko seinem Herausforderer und kündigte an, eine starke Opposition bilden zu wollen. Er trickste nicht, sondern räumte, die Niederlage anerkennend, seinen Sessel. Das zeugt von einer demokratischen Reife im Land, das sich im Krieg gegen den großen wie mächtigen Nachbarn Russland befindet. Der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew reagierte eher herablassend auf die Wahl in der Ukraine. In seinem Eintrag bei Facebook wünschte er der künftigen ukrainischen Regierung „Ehrlichkeit, eine pragmatische und verantwortungsvolle Herangehensweise und Vernunft“. Selen­skis Namen erwähnte er nicht.

Und doch offenbart die Wahl eine Krise der ukrainischen Politik, die in den vergangenen fünf Jahren, trotz sichtbarer und anerkannter Erfolge, es nicht vermochte, die Menschen von diesem Kurs zu überzeugen. Sie geben nun die Chance einem Mann außerhalb des Systems, der – das ist das Risiko – innerhalb dieses Systems schnell zur nächsten Enttäuschung werden könnte.

Seine Kritiker vermuten, dass hinter ihm der Oligarch Igor Kolomoiski steht – ein mächtiger Gegenspieler des bisherigen Präsidenten Poroschenko. Ihm gehört der Fernsehsender, in dem „Diener des Volkes“ ausgestrahlt wird. Der hatte die Vorwürfe stets zurückgewiesen.

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Erstellt:
23. April 2019, 10:18 Uhr

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