Verzicht auf Alkohol im Januar

Warum der Dry January sozial bedenklich ist

Mit einem „trockenen Monat“ beginnen viele das Jahr schon mit Selbstkasteiung. Wer verzichtet, will sich meist vor allem moralisch aufwerten. Warum das auch sozial bedenklich ist.

Im Januar verzichten viele bewusst auf Alkohol. Danach wird dann weiter gebechert.

© Unsplash/Scott Warman

Im Januar verzichten viele bewusst auf Alkohol. Danach wird dann weiter gebechert.

Von Eva-Maria Manz

Vielleicht weil es draußen gerade so feucht und matschig ist, wollen im Januar viele trocken bleiben. Vom Dry January, dem trockenen Januar, ist die Rede, das bedeutet, man trinkt keinen Alkohol. Den Rest des Jahres darf man wieder feuchtfröhlich bechern. In den Medien liest man, das „lohne sich“ langfristig („Stern“), es wird erklärt, was dabei „im Körper passiert“ („Watson“) und welche Getränke „ohne Schwips“ überhaupt „schmecken“ („Zeit“). Das muss mancher für sich erst herausfinden. Von einem sprudelnden Mineralwasser kann man positiv überrascht werden.

Die guten Vorsätze nehmen kaum ein Ende

Das neue Jahr beginnt für die meisten mit mehr oder weniger vernünftigen Vorsätzen. Warum nicht nach der Arbeit, wenn beide kranken Kinder dank Fiebersaft endlich sediert im Bett liegen, eine Runde mit Stirnlampe um den Block joggen, dabei auf den Kopfhörern Portugiesisch-Vokabeln lernen? Danach kocht man das gesunde Mittagessen des kommenden Tages vor, natürlich vegan, wichtige Antioxidantien und Omega-3-Fettsäuren sind enthalten. Während die letzten geschäftlichen Mails beantwortet werden, klopft man dem Partner auf die Finger, der schon naschen will vom Essen für morgen (keine Kohlenhydrate nach 18 Uhr!) und erklärt die Beziehungsaussprachestunde für eröffnet. Auf Anraten der Therapeutin, die Paare heute natürlich vorsorglich besuchen, findet diese in regelmäßigen Abständen statt, Nachfragen erfolgen: Fühlst du dich gesehen? Danach Sex (einmal pro Woche, Psychologen raten zu dieser Frequenz). Den Partner stört es nicht, wenn man nebenher Pranayama-Atmung praktiziert. Gute Nacht!

„Wer mit permanenter Fülle konfrontiert wird, sehnt sich nach Leere“

Viele dieser Formen der Selbstregulierung und -geißelung finden ihre Anhängerschaft. Theoretiker bezeichnen sie hingegen als „besorgniserregendes Symptom des heutigen Wohlstands“, so schreibt es die Philosophin Svenja Flaßpöhler. Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho meint: „Wer mit permanenter Fülle konfrontiert wird, sehnt sich nach Leere: nach einer Erlösung vom Zwang, alle Genussangebote akzeptieren zu müssen. Wer unaufhaltsam versorgt wird, beginnt nach Entzug zu streben.“ Die tägliche Selbstoptimierung kann zwanghafte Formen annehmen.

Wenn einer dann abends mal die Kontrolle verliert und zu später Stunde vier Bier trinkt, büßt er gesellschaftlich an Wert ein. Am nächsten Tag ist Joggen angesagt! Die sublimierte Erotik im strengen Perfektionismus wird zum Religionsersatz. Warum nicht noch wie mittelalterliche Erlebnismystiker Nägel in die Unterwäsche einnähen, sich zur Ader lassen oder Ungeziefer ins Bett legen?

Sozial bedenkliche Selbstkasteiung

Sicher ist es vernünftig, aus Gründen wie etwa dem Klimaschutz auf manches zunehmend zu verzichten. Und genießen kann ohnehin nur, wer es nicht ununterbrochen maßlos tut. Aber die Grenzen zwischen Neurose und ethischem Handeln sind bei manchen fließend. Dabei ist gerade die permanente Selbstkasteiung sozial bedenklich. Es wird zu einem Distinktionsmerkmal, mit dem sich jene aufwerten, die es sich leisten können: Der gebildete, gezügelte Bürger isst kein Fleisch, trinkt kaum Alkohol, raucht nicht, treibt Sport, lebt nachhaltig.

Wer im Januar auf Alkohol verzichtet, fühlt sich moralisch überlegen. Wer es nicht tut, kann sich Samstagmittag im Garten ein herbes Bier einschenken, zuschauen, wie die ersten grünen Spitzen der Narzissen aus der feuchten Erde stechen und ein bisschen an den Frühling denken. Auch das ist der Januar. Man sollte ihn genießen. Die nächste Trockenperiode kommt sicher früh genug.

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Erstellt:
17. Januar 2023, 13:14 Uhr
Aktualisiert:
3. Januar 2024, 08:38 Uhr

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