Überraschungen im Schriftbild

Warum Kinder manchmal spiegelverkehrt schreiben

Manchmal schreiben Kinder Buchstaben oder ganze Wörter spiegelverkehrt. Eltern sind beunruhigt, doch Experten wissen mehr.

Auch Buchstaben werden von Kindern zu Beginn als Formen und Bilder erkannt.

© Unsplash/Kelly Sikkema

Auch Buchstaben werden von Kindern zu Beginn als Formen und Bilder erkannt.

Von Michael Setzer

Kinder verfügen meist schon über erste Schreibkenntnisse, bevor sie in die Schule kommen. Oft ist es ihrer eigenen Neugier geschuldet, manchmal glauben auch die Eltern, schon mal in Vorleistung gehen zu müssen. Und dann gibt’s zum Muttertag putzige Briefchen oder andere Notizen, die Kinder freudig anfertigen.

Bei Eltern wiederum schrillen sofort alle Alarmglocken, wenn die Kinder plötzlich anfangen, einzelne Buchstaben, Zahlen oder ganze Wörter spiegelverkehrt zu schreiben. Von „Stimmt etwas nicht mit meinem Kind?“ bis zu „Ist mein Kind eventuell hochbegabt?“ werden da regelmäßig viele voreilige Schlüsse gezogen.

Teil des Lernprozesses

Doch besorgte Eltern dürfen durchatmen, denn dieses mutmaßliche Phänomen ist eigentlich keines. „Spiegelschrift ist ein normales Phänomen in der Entwicklung junger Kinder“, erklärt Andreas Oberle, Ärztlicher Direktor der Sozialpädiatrie des Klinikums Stuttgart. „Im Lernprozess des Schreibens experimentieren Kinder mit verschiedenen Ausrichtungen.“

Spiegelschrift ist bei Vorschulkindern wie auch bei Erstklässlern weit verbreitet – und gilt gemeinhin als Indiz für gar nichts, außer dass Kinder gerade das Schreiben erlernen. „Das ist ein völlig normaler Prozess bei Kindern“, betont Oberle nochmals. „Eltern müssen sich dann Sorgen machen, wenn es keinerlei Fortschritte im Schreiblernprozess gibt.“ Ebenso entkräftet er einen anderen oft verbreiteten Mythos: „Ob das Kind Links- oder Rechtshänder ist, spielt bei all dem keine Rolle.“

Der deutsche Neurologe Alfred Buchwald befasste sich bereits 1878 mit dem Thema. Er bemerkte Fälle, in denen Rechtshänder beispielsweise nach einem Schlaganfall das Schreiben mit der linken Hand neu erlernen mussten und dabei Buchstaben spiegelverkehrt aufschrieben. Doch auch das hat fast nichts mit Kindern zu tun, die Buchstaben „falsch rum“ schreiben, sondern eher mit dem Neuererlernen.

„Falsch herum“ aus Prinzip

Eine Erklärung, die der französische Psychologe Jean-Paul Fischer bereits vor Jahren anhand von Forschungen mit Kindern gegeben hat: Viele Buchstaben öffnen sich im Schriftbild nach rechts, beispielsweise K, G oder E und so weiter. Dementsprechend würden Kinder unbewusst auch bei Ausnahmen wie dem J, dessen Bild sich nach links öffnet, auf diese Regelmäßigkeit zurückgreifen. Oder eben bei Zahlen wie 3 oder 7, die ebenso häufig „falsch herum“ aufgeschrieben würden.

Andere Forscher haben herausgefunden, dass bei der Einordnung von Symbolen und Buchstaben Gehirnareale aktiv werden, ähnlich wie einst beim überlebenswichtigen Erkennen wilder Tiere.

Buchstaben werden als Formen erkannt

Andreas Oberle vom Stuttgarter Klinikum weiß das zu präzisieren: „Unsere Augen und das Gehirn sind zunächst darauf ausgelegt, Buchstaben zu erkennen, nicht sie zu interpretieren. Der Buchstabe wird also im ersten Schritt des Schreiblernprozesses als Form gesehen“, erklärt er. „Um ihn zu verarbeiten, kommt die linke Hirnhälfte ins Spiel, genauer ein Areal auf Höhe der Schläfe. Dieses ist dafür zuständig Dinge, Formen und Gesichter zu erkennen und zu deuten.“

Und er nennt ein Beispiel: „Wenn wir an die Buchstaben p und q oder d und b denken wird klar, warum dies nicht ganz einfach ist: die Form ist die Gleiche.“ Oberle sagt sogar: „Solange der Prozess des Lesen- und Schreiben-Lernens noch nicht abgeschlossen ist, entscheidet eher der Zufall darüber, ob der Buchstabe oder die Zahl spiegelverkehrt geschrieben wird oder nicht.“

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Erstellt:
20. Mai 2025, 12:14 Uhr

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