Völkerrechtsverstöße Israels?

Warum liefert Deutschland trotz UN-Vorwürfen gegen Israel weiterhin Waffen?

Trotz Vorwürfen, Israel würde das Völkerrecht brechen, hält Deutschland an seiner Linie fest und liefert weiter Waffen. Warum? Das sagt ein Experte.

Zahlreiche Länder fordern ein Ende des Krieges im Gazastreifen. Deutschland stellt sich unter der Führung von Kanzler Merz (l.) und Außenminister Wadephul dagegen (Archivfoto).

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Zahlreiche Länder fordern ein Ende des Krieges im Gazastreifen. Deutschland stellt sich unter der Führung von Kanzler Merz (l.) und Außenminister Wadephul dagegen (Archivfoto).

Von Gülay Alparslan

Laut einem Bericht des UN-Komitees für die Rechte der Palästinenser vom Mai 2025 verstößt das Vorgehen Israels im Gazastreifen, insbesondere die Blockade und die gezielte Verhinderung humanitärer Hilfe, gegen das humanitäre Völkerrecht. Das Komitee wirft Israel vor, Hunger systematisch als Kriegswaffe einzusetzen und die palästinensische Bevölkerung somit kollektiv zu bestrafen.

„Um die internationale Meinung zu beeinflussen“, so Ärzte ohne Grenzen, „hat Israel seine frühere Taktik wieder aufgenommen und führt nun teilweise Erleichterungen ein sowie Barrieren für die Lieferung von Hilfe vorübergehend ab“. Die Organisation warnt jedoch, dass die Hungerkrise in Gaza bereits so weit fortgeschritten ist, dass sie nicht durch „humanitäre Pausen“ im militärischen Angriff gelöst werden kann. In einer verwüsteten Landschaft, in der der soziale Zusammenhalt und die Ordnung zusammengebrochen sind, sei diese Krise bereits zu weit fortgeschritten.

Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen bestätigte, dass sich „das schlimmste Szenario einer Hungersnot im Gazastreifen entfaltet“.

Ende Juli 2025 forderten schließlich 28 Staaten in einer gemeinsamen Erklärung ein Ende der israelischen Kampfhandlungen im Gazastreifen. Auch mehr als 100 humanitäre Organisationen drängen auf einen sofortigen Waffenstillstand und uneingeschränkten Zugang für Hilfslieferungen nach Gaza. Doch Deutschland stellt sich dieser internationalen Forderung entgegen: Die Regierung um Bundeskanzler Friedrich Merz gehört nicht zu den Unterzeichnern der Erklärung und hält trotz fortwährender internationaler Kritik an ihrem engen Bündnis mit Israel fest. Warum?

Warum stoppt Deutschland nicht seine Waffenlieferungen an Israel?

Wir sprachen mit Prof. Dr. Matthias Goldmann, Professor für Internationales Recht an der EBS Universität Wiesbaden und Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut in Heidelberg, über die Hintergründe und möglichen Erklärungen für Deutschlands zögerliche Haltung.

Angesichts der völkerrechtswidrigen Vorgehen Israels stellt sich die Frage, warum Deutschland keinen stärkeren politischen Druck auf Israel ausübt – etwa durch einen Stopp von Militärhilfe. „Woran es liegt, dass Deutschland weiterhin Waffen liefert, ist schwer zu sagen“, sagt Völkerrechtler Matthias Goldmann. Möglich sei, dass die enge sicherheitspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten eine Rolle spielt. Es gebe zahlreiche gemeinsame Projekte mit deutsch-israelischem Hintergrund. „Da stellt sich die Frage, inwiefern man da vielleicht Risiken befürchtet, die auf Deutschland zurückfallen könnten – etwa, wenn Israel im Konfliktfall die Kooperation aufkündigt“, so Goldmann.

Darüber hinaus verweist der Experte auf strategische und historische Gründe für das zögerliche Verhalten der Bundesregierung. Aus Loyalität und Bündnispolitik halte Deutschland an seiner Partnerschaft mit Israel fest: ein Denken, das noch stark von der Nachkriegsordnung geprägt sei. „Da muss man sich fragen: Ist das eine Politik, die heutzutage noch unseren Bündnisinteressen und unseren möglichen Bündniskonstellationen entspricht“, so Goldmann. Deutschland orientiere sich weiterhin an einem westlichen Bündnisrahmen, der stark von den USA dominiert werde. „Dann verhalten wir uns eben auch so, wie es diesem Bündnis entspricht“. Sicherheitsaspekte spielten ebenfalls eine Rolle. Gerade mit Blick auf Russland sei Deutschland in gewisser Weise abhängig von der nuklearen Teilhabe, die die USA gewähren. Doch für die Zukunft sei das keine tragfähige Strategie mehr. „Das hat keine Zukunft“, betont Goldmann. Deutschland müsse sich die Frage stellen, wie ein europäisches Sicherheitsbündnis künftig aussehen könnte – und ob Europa langfristig eine eigenständige nukleare Abschreckung gewährleisten kann.

Experte: Waffenlieferungen dürften eigentlich nicht mehr stattfinden

Doch welche Folgen hat das aktuelle Vorgehen für das Humanitäre Völkerrecht? Aus Sicht von Matthias Goldmann ist die Lage eindeutig: „Mit Blick auf das Kriegsgeschehen muss man sagen, dass es inzwischen einfach doch so viele regelmäßige, fortgesetzte und auch gravierende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht gibt, dass eigentlich die Waffenlieferungen nicht mehr stattfinden dürften.“

Grundlage dafür ist unter anderem der internationale Waffenhandelsvertrag, der Waffenlieferungen untersagt, wenn ein sogenanntes „overriding risk“ – also ein überwiegendes Risiko – besteht, dass diese Waffen für Völkerrechtsverstöße eingesetzt werden. Bei einem genaueren Blick auf deutsche Rüstungsexporte, etwa Ausrüstung für das Heer oder Getriebeteile für Panzer, drängt sich laut Goldmann die Frage auf, ob damit nicht genau jene Mittel geliefert werden, mit denen bereits dokumentierte Verstöße begangen wurden.

Dazu zählen nicht nur die Blockade des Gazastreifens oder die Aushungerung der Bevölkerung, sondern vor allem auch gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur – etwa Krankenhäuser, Universitäten oder Archive. Ebenso problematisch seien Luftangriffe mit hohen zivilen Opferzahlen, wenn etwa zur Ausschaltung eines mutmaßlichen Hamas-Kämpfers ganze Gebäude zerstört und Dutzende Menschen getötet werden. Zwar gebe es im humanitären Völkerrecht keine exakten mathematischen Maßstäbe für Verhältnismäßigkeit, räumt Goldmann ein – gerade das mache die juristische Bewertung schwierig. Um ein „overriding risk“ rechtlich sicher festzustellen, brauche es eine außergewöhnlich klare Faktenlage, gerade für Staaten wie Deutschland, die sich strategisch eng an Israel gebunden fühlen. „Ich würde aber sagen, dass wir inzwischen zumindest seit dem Ende des Waffenstillstands in so einer Situation sind, wo man das eigentlich kaum mehr leugnen kann“.

Zwischen Loyalität und völkerrechtlicher Verantwortung

Wie realistisch sind spürbare europäische Konsequenzen gegenüber Israel, wenn die USA kompromisslos an der Seite der israelischen Regierung stehen? Für den Völkerrechtler Matthias Goldmann steht fest: Deutschland befindet sich in einem Dilemma. „Auf der einen Seite geht das Völkerrecht gerade den Bach runter – und das ist langfristig für Europa und Deutschland, die sich nicht mehr auf die USA verlassen können, katastrophal“, so Goldmann. Gerade weil die europäische Sicherheitsordnung zunehmend von Eigenständigkeit abhängig sei, müsse Deutschland international als glaubwürdiger Akteur auftreten. „Wir müssen uns mehr denn je auf das Recht verlassen – und das vor allem auch gegenüber nicht-europäischen Staaten. Wir müssen ihnen signalisieren: Im Gegensatz zu den USA nehmen wir das Völkerrecht als verbindliche Grundlage ernst.“

Gleichzeitig sei Europas sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA, insbesondere angesichts des russischen Angriffskriegs, nicht zu leugnen. Die Bundesregierung wolle es sich daher mit Washington nicht verscherzen. Aus Sicht des Experten hätte Deutschland dieses Spannungsverhältnisses längst deutlichere Signale setzen können – etwa durch Einschränkungen bei Rüstungsexporten oder eine Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit Israel. Stattdessen sende Berlin gegenteilige Signale, indem Merz etwa angekündigte, Netanyahu nach Deutschland einladen zu wollen. „Trotz des Dilemmas gab es viele Handlungsoptionen, um das Völkerrecht zu schützen – sie werden aber nicht genutzt.“

Der Rechtsexperte plädiert dafür, dass sich Deutschland so konsequent wie möglich am Völkerrecht orientiert – nicht nur aus moralischen, sondern auch aus strategischen Gründen. Eine klar legalistische Haltung, etwa durch das Aussetzen von Waffenlieferungen bei massiven Völkerrechtsverstößen, könne gegenüber den USA ein wichtiges Signal setzen: Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Handeln. „Konsequent sein – das ist vielleicht der wichtigste Punkt“, sagt Goldmann. Langfristig müsse Europa zudem anstreben, sicherheitspolitisch unabhängiger zu werden. „Sonst wird es dauerhaft zu immer schwierigeren Kompromissen gezwungen.“

Zum Artikel

Erstellt:
1. August 2025, 19:30 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen