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Warum rutschen wir auf Glatteis aus?

Bei Glatteis kommt man mit dem falschen Schuhwerk schnell ins Rutschen. Doch warum gleiten oder schlindern wir auf Eis eigentlich dahin? Forscher sind der Physik des Ausrutschens aus Eis nachgegangen.

Autsch, das tat weh! Warum rutschen wir auf Eis eigentlich aus? Und was hat das unterschiedliche Schuhwerk damit zu tun? Die Antwort auf diese physikalische Fragen sind überraschender als man denkt

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Autsch, das tat weh! Warum rutschen wir auf Eis eigentlich aus? Und was hat das unterschiedliche Schuhwerk damit zu tun? Die Antwort auf diese physikalische Fragen sind überraschender als man denkt

Von Markus Brauer

Seit Jahrhunderten ist sich die Physik sicher: Neben der Temperatur sorgen Druck und Reibung dafür, dass Eis an gleitenden Oberflächen schmilzt. Dass die Fachwelt damit einhellig daneben liegt, fand nun ein Forscherteam um Martin Müser, Professor für Materialsimulation an der Universität des Saarlandes, heraus.

Sie konnten in Computersimulationen zeigen, dass es an Oberflächen unterschiedlich orientierte Moleküle gibt, die für Unordnung zwischen den Eiskristallen sorgen. Die Arbeit ist im Fachjournal „Physical Review Letters“ veröffentlicht worden.

Traditionelle Theorie stimmt so nicht

Reibung + Druck = schmelzendes Eis. So haben es Schüler rund um den Globus seit über hundert Jahren gelernt. Aber sie haben etwas Falsches gelernt. Tritt man morgens aus der Haustür auf den vereisten Bürgersteig, rutscht man nicht aus, weil der Druck der Schuhsohlen (und des darüber befindlichen Gewichts) oder ihre Temperatur von über null Grad Celsius das Eis schmelzen lässt. Schuld daran sind viel mehr die Dipole der Eismoleküle, die mit den Dipolen der Schuhsohle wechselwirken.

Diese Erkenntnis verwirft nichts weniger als das Paradigma, das James Thompson, der Bruder von Lord Kelvin, vor knapp zwei Jahrhunderten prägte, nämlich, dass, neben einer Temperatur von über null Grad Celsius, auch Druck und Reibung Eis zum Schmelzen bringen.

„Das stimmt beides nicht, weder Druck noch Reibung haben einen großen Effekt auf die Bildung eines dünnen Flüssigkeitsfilms auf dem Eis“, erklärt der Physiker Müser, der in seiner jüngsten Veröffentlichung mit seinen Kollegen darlegt, welche Rolle die Dipole – also unterschiedlich geladene Bereiche der Moleküle, die in eine bestimmte Richtung weisen – bei der Entstehung der dünnen Flüssigkeitsschicht spielen, dank derer wir uns dann beispielsweise im Winter auf die Nase legen.

Wie Eis aufgebaut ist

Dazu muss man verstehen, wie Eis aufgebaut ist: Das Wassermolekül H2O bildet unter null Grad Celsius eine regelmäßige, geordnete Kristallstruktur. Fein säuberlich reiht sich ein Molekül ans andere, so dass eine feste, kristalline Struktur entsteht. Alles ist in bester Ordnung.

Tritt nun ein Schuh auf dieses wohlgeordnete Konstrukt, sorgt nicht dessen Druck oder dessen Reibung dafür, dass die oberste Molekülschicht durcheinandergerät, sondern die unterschiedlich geladenen Dipole dieser Moleküle, die in bestimmten Richtungen zeigen.

War deren Welt bis zum Erscheinen der Schuhsohle in harmonischer Ordnung, gerät sie schlagartig in Unordnung. „Denn in drei statt zwei Dimensionen gibt es immer eine so genannte ‚frustrierte Wechselwirkung’“, erklärt Müser.

Wie kristallines Wasser seine geordnete Struktur verliert

Mit dem Erscheinen der Schuhsohle kommen neue Dipole hinzu, die einigen Dipolen im Eis ganz gut gefallen. „Wenn dann ein Dipol des anderen Körpers, also der Schuhsohle, gerade die richtige Orientierung aufweist, sagt der dazu passende Dipol des Eises ‚Hey, da gehe ich mit!‘“, umschreibt es Müser.

Auf mikroskopischer Ebene verliert das kristalline Wasser also seine geordnete Struktur an der Grenzfläche von Eis und Schuhsohle und wird ungeordnet, also amorph und letztlich flüssig.

Ski fahren bei minus 40 Grad – geht das?

Neben dieser Erkenntnis, die rund 200 Jahre altes Wissen beiseite fegt, räumt die Studie noch mit einer weiteren irrigen Annahme auf. „Bisher gingen wir auch davon aus, dass man unter minus 40 Grad Celsius beispielsweise nicht mehr Ski fahren kann, weil sich dann schlicht kein dünner Flüssigkeitsfilm mehr unter den Skiern bildet, da es zu kalt ist. Auch das ist falsch“, erläutert der Materialphysiker.

Die anziehende Wirkung der Dipole funktioniert auch bei solchen tiefen Temperaturen noch tadellos. „Selbst nahe des absoluten Nullpunktes entsteht noch ein flüssiger Film an der Grenzfläche von Eis und Ski“, führt Müser aus. Dieser Film ist aber bei sehr niedrigen Temperaturen noch zähflüssiger als Honig, auf dem sich bekanntlich schlecht Ski fahren lässt. Diesen Film kann man kaum mehr als das wahrnehmen, was wir als Wasser bezeichnen würden.

Fest steht aber auch: Es wird denjenigen, die sich im Winter auf die Nase legen, herzlich egal sein, ob es Druck, Reibung oder Dipole sind, die ihnen den Schmerz eingebrockt haben. Für die Physik jedoch ist es nicht egal, auch wenn noch nicht klar ist, welche Folgen die Entdeckung der drei saarländischen Wissenschaftler haben wird.

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Erstellt:
1. September 2025, 17:02 Uhr
Aktualisiert:
1. September 2025, 17:07 Uhr

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