Rätsel des Universums
Was Röntgenstrahlung über „fehlende“ Materie im Kosmos verrät
Lange wusste man wenig über einen Teil der Materie im Kosmos. Nun sind Forscher schlauer: Beobachtungen bestätigen theoretische Modelle und Simulationen.

© Illustris Collaboration
Die Simulation von kosmischen Filamenten zeigt den Übergang von dunkler Materie (blau-violette Färbung) zu normaler Materie (orange-rot).
Von Markus Brauer/dpa
Astronomen haben ein großes Filament aus heißem Gas untersucht, das vier Galaxienhaufen verbindet. Filamente sind fadenförmige Verbindungen aus sichtbarer und dunkler Materie zwischen sehr dichten Ansammlungen von vielen Galaxien – also Galaxien- und Supergalaxienhaufen.
Dieser Gasfaden enthält sogenanntes warm-heißes intergalaktisches Medium. Das heiße Gas erstreckt sich über eine Entfernung von 23 Millionen Lichtjahren, ist mehr als zehn Millionen Grad heiß und könnte Teil der fehlenden normalen Materie sein, die vom kosmologischen Standardmodell vorhergesagt, aber noch nicht nachgewiesen wurde.
Wo hat sich normale Materie im Weltall versteckt?
Jahrzehntelang standen Astronomen vor einem Rätsel: Etwa ein Drittel der normalen Materie – jener Stoffe also, aus denen Sterne, Planeten und auch Menschen bestehen – entzog sich trotz aller Anstrengungen der Beobachtung.
Jetzt gelang es einem internationalen Forscherteam, diese „fehlende“ Materie mithilfe von zwei Röntgensatelliten aufzuspüren. Wie die Wissenschaftler im Fachblatt „Astronomy & Astrophysics“ berichten, verbindet ein 23 Millionen Lichtjahre langes Filament aus zehn Millionen Grad heißem Gas vier Galaxienhaufen.
Detection of pure warm-hot intergalactic medium emission from a $7.2$ Mpc long filament in the Shapley supercluster using X-ray spectroscopy. https://t.co/Majpcgbwtj — Astrophysics Papers (@AstroPHYPapers) June 19, 2025
Vier Galaxien im Shapley-Superhaufen
Die Forscher konzentrierten sich auf ein Filament, das die Galaxienhaufen A3532 und A3530 auf der einen Seite mit A3528-N und A3528-S auf der anderen Seite verbindet. Die vier Galaxienhaufen sind Teil des großen Shapley-Superhaufens, einer großen Ansammlung von mehr als 8000 Galaxien, die sich etwa 650 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild Centaurus befinden.
Die Analyse zeigt, dass das Filament hauptsächlich aus freien Elektronen und Protonen mit einer Temperatur von mehr als zehn Millionen Grad Celsius besteht. Die Dichte beträgt etwa zehn Teilchen pro Kubikmeter, was etwa 30 bis 40-mal der durchschnittlichen Dichte des Universums entspricht. Insgesamt umfasst das heiße Gas im Filament in etwa das Zehnfache der Masse der Milchstraße.
Normale vs dunkle Materie
Kosmologische Beobachtungen stützen das Standardmodell zur Entwicklung des Universums, das von bestimmten Mengen an Materie- und Energieformen ausgeht.
Zwei dieser Bestandteile sind der Teilchen- und Quantenphysik noch unbekannt, für den Erfolg des Modells aber entscheidend:
- Die sogenannte dunkle Materie soll die relativ schnellen Rotationsraten der Galaxien erklären.
- Die dunkle Energie die zunehmende Expansionsrate des Universums.
Physik kennt 95 Prozents des Inhalts des Universums nicht
Die baryonische Materie – also die aus Atomen aufgebaute normale Materie wie zum Beispiel Elektronen und Protonen – trägt nur zu 5 Prozent zur Gesamtsumme bei. In der Kosmologie und der Astrophysik wird der Begriff verwendet, um die normale Materie von dunkler Materie, dunkler Energie und elektromagnetischer Strahlung zu unterscheiden.
„Nicht nur, dass die moderne Physik die Natur von 95 Prozents des Inhalts unseres Universums nicht kennt. Wir sind bisher auch nicht in der Lage, die Hälfte der verbleibenden 5 Prozent zu lokalisieren“, erklärt Florian Pacaud vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn.
Groß angelegte kosmologische Simulationen zeigen, dass es sich bei der fehlenden Materie um warme ionisierte Materie handelt – sogenanntes warm-heißes intergalaktisches Medium (WHIM). Dieses kommt in riesigen kosmischen Filamenten, den lang gezogenen Gasfäden im Kosmos, vor, die Galaxienhaufen miteinander verbinden.
Riesiger, heißer Faden aus fehlender „normaler“ Materie
„Zum ersten Mal stimmen unsere Ergebnisse mit den Modellen des Kosmos überein“, stellt Teamleiter Konstantinos Migkas von der Sternwarte Leiden in den Niederlanden, fest. „Wie es scheint, hatten die Simulationen also recht.“
Mithilfe von Simulationen versuchen Astrophysiker, die Entstehung und Entwicklung von Strukturen im Kosmos – also Galaxien und Galaxienhaufen – nachzuvollziehen. In diesen Modellen sind Galaxienhaufen durch lang gestreckte Filamente – also fadenförmige Strukturen – verbunden, die sehr viel Gas enthalten.
Zwar konnten viele solcher Filamente tatsächlich nachgewiesen werden, doch sie enthielten viel weniger Materie, als es die Simulationen vorhersagen.
Es brauchte zwei Röntgenteleskope
Jetzt wissen die Himmelsforscher, warum: Aufgrund seiner extrem hohen Temperatur ist das Gas nur im Röntgenbereich sichtbar. Unglücklicherweise senden aber auch andere Himmelsobjekte Röntgenstrahlung aus, insbesondere große Schwarze Löcher. Deshalb benötigte das Team um Migkas gleich zwei Röntgenteleskope, um die „fehlende“ Materie nachzuweisen.
Das japanische Instrument Suzaka registrierte die Stärke der Röntgenstrahlung entlang des Filaments, der europäische Satellit XMM-Newton identifizierte die störenden Quellen. Nach Abzug dieser störenden Einflüsse ergab sich für das Filament eine Gesamtmasse, die etwa dem Zehnfachen der Masse der Milchstraße entspricht, was in guter Übereinstimmung mit den Simulationen ist.
„Die fehlende Materie hat sich also in kaum sichtbaren Fäden im Universen versteckt“, resümiert Norbert Schartel, Projektwissenschaftler von XMM-Newton. „Damit haben wir unser kosmologisches Standardmodell gestärkt und seit Jahrzehnten durchgeführte Simulationen bestätigt.“