Wenn das Kind zum Drachen wird

Das Aushalten von Frustration gehört zur Entwicklung der Kinder – Experten des Jugendamts Backnang geben Tipps zur Trotzphase

Diese Situation kennt jede Familie – Brüllanfall des Nachwuchses in aller Öffentlichkeit. In einem solchen Trotzanfall ist es wichtig, die Kinder wieder auf die Erde zu holen, damit man als Elternteil nicht in die Eskalationsfalle gerät. Am besten geht das mit Humor und klaren Ansagen. Experten des Jugendamts Backnang geben Tipps zur Trotzphase.

Manchmal lässt der Nachwuchs die Eltern ratlos zurück. Wichtig ist aber immer, Brücken zu bauen zwischen dem Willen der Kinder und den Wünschen der Eltern, und nicht nachtragend zu sein, sondern Nähe zu zeigen. Foto: Fotolia

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Manchmal lässt der Nachwuchs die Eltern ratlos zurück. Wichtig ist aber immer, Brücken zu bauen zwischen dem Willen der Kinder und den Wünschen der Eltern, und nicht nachtragend zu sein, sondern Nähe zu zeigen. Foto: Fotolia

Von Simone Schneider-Seebeck

BACKNANG. Nach einem schönen Ausflug in den Zoo beschließt die Familie, auf dem Rückweg nach Hause noch einen Abstecher zum Baumarkt zu machen, um dringend benötigtes Material für den Umbau des Eigenheims abzuholen. Es ist Freitagabend, die Kinder im Alter von acht und vier Jahren schon etwas müde und quengelig. Während der Papa und die Große sich auf den Weg zum Abholbereich machen, muss die Kleine dringend aufs Klo, was recht unproblematisch vonstattengeht. Doch der Weg zum Rest der Familie wird zum Spießrutenlauf. Der Baumarkt ist groß, die Anzahl der Einkäufer ebenso und daher beschließt die Verfasserin dieser Zeilen, das Töchterlein an die Hand zu nehmen. Diese ist damit jedoch nicht einverstanden, fängt an zu quengeln, will sich aus dem festen Griff herauswinden und fängt schließlich an, lautstark zu protestieren. Jeder Versuch, zu erklären, dass es an der Hand sicherer ist, ist zum Scheitern verurteilt. Die Mutter wird immer hitziger, das Kind brüllt und schließlich mischt sich noch ein älterer Herr ein: „Wenn Sie sich um Ihr Kind kümmern würden, würde es auch nicht so schreien!“ Na toll. Ein eigentlich schöner Tag endet mit Geschrei und Geschimpfe.

Müde Kinder und etwas gestresste Eltern – das kann nicht gut gehen

Mit einem gewissen Abstand betrachtet, ist es vollkommen klar, dass diese Situation eskalieren musste. Müde Kinder, etwas gestresste Eltern, das kann nicht gut gehen. Und dazu noch die Öffentlichkeit, die sich womöglich wohlmeinend einmischt, aber es nur noch schlimmer macht. Heike Schmalzl kennt das auch recht gut. Der zehnjährige Simon und sein fast siebenjähriger Bruder sind nicht gerade kleine Engel, doch die Kirchbergerin hat im Lauf der Jahre ihre eigene Strategie entwickelt, um bei Trotz- und Wutanfällen nicht selbst in die Eskalationsfalle zu treten. „Wenn Tyler mal etwas nicht passt, kann es schon mal sein, dass etwas durch die Gegend fliegt“, berichtet sie vollkommen gelassen. Doch sie hat einige Ablenkungsstrategien in petto, um ihn dann wieder etwas herunterzubekommen, beispielsweise sich auf die Oberschenkel klopfen. „Das entspannt die Kinder.“ Oder auch „Ich sehe was, was du nicht siehst“ zu spielen. Es sei ganz wichtig, die Kinder wieder auf die Erde zu holen, wenn sie mitten in einem Trotzanfall stecken, damit man nicht in die Eskalationsfalle gerät, und das gehe am besten mit Humor: „Ich muss mir immer einen Spaß einfallen lassen, damit es nicht zu stressig wird“, so Heike Schmalzl. Wenn Tyler schon beim Aufstehen schlecht gelaunt ist, dann bringt etwa der Crazy Frog seine gute Laune wieder zurück. „Alt, aber gut“, schmunzelt Schmalzl. Diese Strategien hat sie im Lauf der Jahre entwickelt. Früher hat sie auch nicht alles auf die leichte Schulter nehmen können. „Als Simon noch klein war“, berichtet die Mittfünfzigerin, „hat er beim Einkaufen gern alles Mögliche in den Einkaufswagen geworfen. Und ich habe es dann unter Protest wieder zurückgestellt. Er war dann beleidigt und es wurde laut. Einmal hat sich eine Frau eingemischt und gefragt, warum ich denn dem armen Kind nicht auch mal was gönnen würde. Da habe ich dann zu ihr gesagt, sie könne ja bezahlen, was er alles so in den Wagen wirft.“ Heute diskutieren die beiden nur noch, es gibt kein Geschrei mehr, wenn es nicht nach dem Kopf der Jugend geht. Simon meint dazu nur: „Dann motze ich kurz rum und bin beleidigt. Aber nach ein paar Minuten bin ich dann nicht mehr beleidigt.“

Gerhard Bühler, Diplom-Heilpädagoge bei der Beratungsstelle für Familien und Jugendliche des Kreisjugendamts, ist überzeugt: „Die Trotzphase im klassischen Sinne, so wie in der Entwicklungspsychologie beschrieben, gibt es nicht.“ Das Oppositionsverhalten von Kindern sei generell wichtig für die Identitätsentwicklung von Kindern und komme immer wieder im Lauf des Lebens vor. Besonders wenn Umbrüche oder Veränderungen anstehen, kann es zu extremem Verhalten kommen. Die Rolle der Eltern sei es, diese Phasen des Auslotens in gewissem Maße zu unterstützen, jedoch auch Grenzen zu setzen. Kleinere Kinder können sich noch nicht so gut verbal ausdrücken, da wird Unbehagen oder Missfallen mit Geschrei gezeigt, während ältere Kinder – gern auch heftig – diskutieren. Bühlers Kollegin, Sozialpädagogin Mirjam Jokiel, die selbst einen dreijährigen Sohn hat, betont: „Brücken bauen zwischen dem Willen der Kinder und den Wünschen der Eltern ist wichtig. Es lohnt sich jedoch, liebevoll konsequent zu sein. Grenzen bieten Sicherheit und Orientierung und sind für Kinder sehr wichtig.“ Eltern sollen authentisch rüberkommen. „Kinder wollen, dass Erwachsene eine Position beziehen und daran festhalten.“ Man solle nicht jedem Wunsch der Kinder nachgeben – zur Entwicklung von Kindern gehöre es, zu lernen, Frustrationen auszuhalten und diese zu regulieren. Denn auch im späteren Leben geht es nicht immer nach dem eigenen Kopf.

Um Situationen, die Konfliktpotenzial bergen, nicht eskalieren zu lassen, empfehlen die beiden Pädagogen folgende Verhaltensweisen: Änderungen sollten möglichst rechtzeitig und zeitnah angekündigt werden („Noch dreimal rutschen, dann gehen wir nach Hause“, „In fünf Minuten müssen wir aus dem Haus“), Anweisungen sollten klar und kurz sein („Zieh bitte die Schuhe an“, „Räume den Teller in die Küche“). Ich-Botschaften helfen zudem. Dabei sollte gewährleistet sein, dass man die volle Aufmerksamkeit des Kindes hat, etwa durch Blick- oder Körperkontakt. Zudem lässt sich vielleicht in manchen Situationen ein Kompromiss zwischen Kinderwunsch und Elternmeinung finden, der beide Seiten zufriedenstellt – eben Brücken bauen, wie Jokiel betont. Man dürfe nicht vergessen, dass Kinder andere Prioritäten hätten als Erwachsene. Bevor eine Situation in irgendeiner Weise außer Kontrolle geraten kann, ist es besser, sich zurückzuziehen und kurz aus der Situation zu gehen. Anschließend sei es ganz wichtig, nicht nachtragend zu sein, sondern Nähe zu zeigen. Und oft findet man dann gemeinsam eine gute Lösung für alle Seiten.

Informationen über Beratungsstellen
für Familien und Jugendliche im Rems-Murr-Kreis finden sich unter www.rems-murr-kreis.de/jugend- gesundheit-soziales/familie-und-eltern/ erziehungsberatung.

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Erstellt:
6. November 2018, 06:00 Uhr

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