Wenn der Eismann zweimal klingelt

Sommerreportage Seit drei Jahren fährt Vincenzo in seinem Lieferwagen täglich durch den Rems-Murr-Kreis und verkauft Eiscreme. Wir haben ihn auf einer Tour begleitet.

Zufriedene Kundin: Kristina Britvec von der Waiblinger Firma Konz gönnt sich fast täglich ein Eis in der Mittagspause. Ihren Kollegen bringt sie zwei Becher mit. Fotos: Melanie Maier

Zufriedene Kundin: Kristina Britvec von der Waiblinger Firma Konz gönnt sich fast täglich ein Eis in der Mittagspause. Ihren Kollegen bringt sie zwei Becher mit. Fotos: Melanie Maier

Von Melanie Maier

Rems-Murr. Manche seiner Kundinnen und Kunden kennt Vincenzo so gut, dass nicht viele Worte nötig sind. Dem jungen Mitarbeiter der Technikfirma Elpo im Backnanger Industriegebiet zum Beispiel stellt der Eisverkäufer, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, einen Becher mit zwei Kugeln Zitroneneis auf den Tresen, ohne dass der etwas sagen muss. Und das, obwohl er noch gar nicht so lange im Geschäft ist. Seit gerade einmal vier Jahren ist der 55-jährige Sizilianer in Deutschland, vor drei hat er sich mit seinem Eiswagen selbstständig gemacht. Mit dem fährt er seither täglich von Fellbach nach Backnang und verkauft Eiscreme in Industriegebieten, an Spielplätzen, in Wohngebieten. Sobald er seine Glocke läutet, kommen die Leute. „Von Mai bis Juli ist so viel los, dass man nicht mal mehr zum Denken kommt“, sagt er. Jetzt im August sind die meisten seiner Kunden im Urlaub. Die Schulkinder haben Ferien, die Unternehmen sind geschlossen.

Vincenzos Arbeitsplatz ist mobil – und nur wenige Quadratmeter groß.

Vincenzos Arbeitsplatz ist mobil – und nur wenige Quadratmeter groß.

Der Tag beginnt für Vincenzo gemächlich. Der Morgen ist sein Feierabend, sozusagen. Den nutzt er vor allem zum Radfahren. An diesem Vormittag ist er die Strecke, die er nachmittags in seinem Transporter zurücklegen wird, schon einmal mit dem Fahrrad abgefahren: von seinem Wohnort Bad Cannstatt nach Backnang und zurück. Aus dem Stuttgarter Stadtteil fährt er um 12 Uhr im Auto nach Fellbach-Oeffingen. Vor dem Gelände der Firma Scalcione parkt sein Lieferwagen. Von dem italienischen Familienunternehmen bezieht er sein Eis. „Buongiorno!“, begrüßt er die Kinder, die am Eingang spielen. Der Chef kommt, holt die Eissorten, die Vincenzo fehlen, aus dem auf minus 20 Grad heruntergeregelten Kühllager: eine Metallschale Kirsch-Cola und eine Melone. „Sieben Sorten habe ich immer da: Vanille, Schoko, Haselnuss, Stracciatella, Zitrone, Erdbeere und Blu Gum. Die anderen wechseln“, erklärt der schlanke Italiener mit dem kurzen, grauen Haar wenig später im hinteren Teil seines Lieferwagens. Der, sagt er, sei klein, habe aber alles, was er brauche. In der Kühltruhe ist die Eiscreme, in den Regalen befinden sich Waffeln, Kakao, Kaffee, Haselnüsse, frische Erdbeeren. Dann sind da noch ein kleines Spülbecken, Lappen und ein blau-weiß kariertes Geschirrtuch. Sauberkeit, sagt Vincenzo, stehe bei ihm an erster Stelle: „Die Leute müssen sich auf mich verlassen können.“ Morgens und abends putzt er den Wagen und alles, was sich darin befindet – die Scheiben, die Flächen, die Presse fürs Spaghettieis. Erst wenn alles gewischt ist, kann die Fahrt losgehen. Ungefähr eine halbe Stunde dauern die Vorbereitungen morgens, abends ist er noch einmal eine ganze Stunde beschäftigt.

Tagsüber kommt der Eisverkäufer oftmals nicht zum Essen

Von Mai bis Juli kommt er nicht selten erst nach Mitternacht nach Hause. Der Job sei nicht für jeden, sagt er: „Man muss sehr gut organisiert und im Kopf immer schon beim nächsten Stopp sein.“ Außerdem belastbar: In der Hauptsaison kommt er häufig erst nach der Arbeit dazu etwas zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Der Transporter schleppt sich krächzend den Hang hoch. Er hält in einem Industriegebiet in Waiblingen. Noch im Fahren greift Vincenzo nach der messingfarbenen Glocke neben dem Fahrersitz, läutet sie vor dem offenen Fenster. Das laute Klingeln tut in den Ohren weh. „Mir macht das nichts aus“, sagt der Eisverkäufer und lacht. „Es gäbe auch einen kleinen weißen Knopf, mit dem man eine elektronische Glocke auf dem Dach läuten kann“, sagt er und deutet auf ein Knöpflein unter dem Lenkrad. „Aber die echte Glocke ist mir lieber.“ Das sagt er auf Italienisch – Deutsch spricht er kaum. Für die Bestellungen reichen seine Sprachkenntnisse aber allemal aus: „In der Waffel oder im Becher?“, das ist natürlich Standard. Und wenn er das Gewünschte über den Tresen reicht, wird das jedes Mal begleitet von einem „Bittescheee!“. Die erste Kundin des Tages bestellt eine Kugel Schokolade und eine Kugel Pistazie in der Waffel, Sekunden später reicht er sie schon über den Tresen. Am beliebtesten seien die Sorten Schokolade und Vanille, sagt er. Er selbst isst am liebsten Zitrone und Erdbeere. Aber auch nur, wenn es über 30 Grad sind. Heute, bei etwa 28 Grad, ist es ihm trotz Sonnenschein zu kalt für Eis. Das hat sich auch nach vier Jahren Deutschland nicht geändert.

Die Kundinnen und Kunden können aus rund 15 Sorten Eis wählen. Einige wechseln.

Die Kundinnen und Kunden können aus rund 15 Sorten Eis wählen. Einige wechseln.

In Catania, seiner Heimatstadt, betrieb er 27 Jahre lang eine Videothek. „Das Internet“, sagt er, „hat das Geschäft kaputt gemacht.“ In Deutschland sah er seine Chance, noch einmal neu anzufangen. Ein Freund vermittelte ihm direkt nach seiner Ankunft einen Job als Eisverkäufer bei der Firma Scalcione. „Das war super, aber ich arbeite lieber auf meine eigene Rechnung“, erklärt er auf der Weiterfahrt nach Winnenden. Vor drei Jahren kaufte er den VW Transporter und rüstete ihn um. Weil er keine Umweltplakette für Stuttgart bekommen konnte, fährt er durch den Rems-Murr-Kreis. Um die 50 Stopps liegen auf seiner Route, die er jedoch jährlich anpasst. In der Hochsaison schafft er es oft nicht, an jedem der Stopps anzuhalten, weil die Schlangen vor seinem Eiswagen zu lang sind. Dann muss er ein paar Haltepunkte überspringen, um die verlorene Zeit wieder hereinzuholen. „Aber dann rufen mich die Kunden später an und fragen, warum ich heute nicht gekommen bin“, berichtet er.

Das ist auch der Grund, warum er tatsächlich jeden Tag unterwegs ist, auch wenn es regnet. Ein Wochenende – das hat er sechs Monate im Jahr nicht. Von Ende März bis Mitte Oktober arbeitet er in Deutschland als Eisverkäufer, den Rest des Jahres verbringt er in Italien. Sobald er kann, möchte er dauerhaft dorthin zurückkehren. „Es tut mir leid, aber so ist es“, sagt er. „Meine Heimat fehlt mir. Sizilien lässt einen nie wieder los.“ Seine 19-jährige Tochter hat das wohl ähnlich empfunden, nach kurzer Zeit in Deutschland ist sie nach Catania zurückgekehrt. Der 29-jährige Sohn dagegen ist geblieben, seine Frau arbeitet in einem Krankenhaus in Stuttgart.

Die Kühltruhe, in der sich das Eis befindet, wird mit einem Generator betrieben. Nachts ist er ans Stromnetz angeschlossen. Im Karton links sind Eiswaffeln.

Die Kühltruhe, in der sich das Eis befindet, wird mit einem Generator betrieben. Nachts ist er ans Stromnetz angeschlossen. Im Karton links sind Eiswaffeln.

In Sizilien baut Vincenzo Orangen an. „Noch sind die Bäume klein, aber ich hoffe, dass der Ertrag als Einkommen ausreicht, sobald sie groß sind.“ Gleichwohl weiß er jetzt schon, dass es ihm nicht leichtfallen wird, Deutschland den Rücken zu kehren. „Man wird quasi ein Teil von ihnen, ein Teil ihres Lebens“, sagt er über seine Kundinnen und Kunden – und das, obwohl er so wenig Deutsch spricht. Aber manche sieht er eben so gut wie täglich. So wie Thomas Papke, Geschäftsführer der Firma Papke in Winnenden, der in fast jeder Mittagspause einen Bananensplit ohne Sahne isst. „Uns gehört der Eiswagen schon fast“, scherzt der 53-Jährige, als er sein Dessert entgegennimmt. Vincenzo verabschiedet sich: „A domani!“, bis morgen. Dann fährt er weiter.

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Erstellt:
18. August 2022, 06:00 Uhr

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