Wenn sich das Coronavirus in Gemeinschaften einschleicht

dpa Göttingen/Bremerhaven. Die gute Nachricht - trotz Göttingen, trotz Bremerhaven: Corona-Fälle in einzelnen sozialen Gruppen werden laut Experten wohl nicht zu einer zweiten Welle führen. Die weniger gute: Die Abwehr erfordert trotzdem viel Einsatz, neue Konzepte sind nötig.

Das Iduna-Zentrum. Bei mehreren größeren privaten Feiern in dem Hochhauskomplex haben sich in Göttingen mehrere Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Foto: Swen Pförtner/dpa

Das Iduna-Zentrum. Bei mehreren größeren privaten Feiern in dem Hochhauskomplex haben sich in Göttingen mehrere Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Foto: Swen Pförtner/dpa

Wenn das Coronavirus zuschlägt, dann oft gleich in ganzen Menschengruppen.

Dies verbindet Fälle, die Deutschland in den vergangenen Tagen und Wochen beschäftigt haben. Gefährlich ist, wenn das Virus in Institutionen eindringt, in Altenheime wie in Würzburg und Wolfsburg, in Flüchtlingsheime wie in Bremen.

Betroffen waren auch Werkvertragsarbeiter der Fleischindustrie in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die in Wohnheimen leben.

Es gibt einen Infektionsherd mit bislang 175 Betroffenen in Göttingen, der nach Darstellung der Stadt auf Familienfeiern zum muslimischen Zuckerfest zurückgeht. Es gibt die Corona-Ausbrüche in freikirchlichen Gemeinden in Frankfurt/Main und Bremerhaven. „Das ist auch ein soziales Virus“, sagte der Medizinsoziologe Matthias Richter von der Universität Halle-Wittenberg der Deutschen Presse-Agentur.

Dauer und Zahl der Kontakte seien die entscheidenden Faktoren, so der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. „Enge Wohnungen oder Wohnheime mit vielen Menschen - das sind ideale Voraussetzungen für eine Verbreitung des Virus.“ Insgesamt seien die Infektionen zurückgegangen. „Da stechen die einzelnen Super-Spreader-Events stärker hervor.“ Gemeint sind Fälle, bei denen ein Infizierter unwissentlich viele andere ansteckt.

Armut beeinflusst nach Ansicht der Experten das Risiko einer Gruppe, von Infektionen betroffen zu werden. Es gibt kulturelle Faktoren, auch ein mögliches Misstrauen gegenüber Behörden spielt eine Rolle. Weil die betroffenen sozialen Gruppen so unterschiedlich seien, brauche es neben den großen Botschaften mehr zielgerichtete Ansprache, meint der Soziologe Richter. „Man kann nicht mit der einen Botschaft "So, jetzt alle Maske tragen!" alle erreichen.“

Die Gesellschaft müsse sich bewusst sein, wie divers sie ist, und auf einzelne soziale Gruppen zugehen - vor allem, wenn die Infektionen von dort auf alle zurückwirken, sagt er. In Göttingen geht es im Kern um einige muslimische Familien aus dem früheren Jugoslawien. Aber es mussten alle 600 Bewohner eines Hochhaus-Komplexes getestet werden. Weil viele Kinder infiziert waren, wurden Schulen und einige Kitas in der Stadt wieder geschlossen. Der Mannschaftssport in Vereinen ruht.

Auch die Stadt Bremerhaven schloss wegen rund 100 Infektionen bei Mitgliedern einer freikirchlichen Gemeinde eine Grundschule für mindestens eine Woche. Weitere Lockerungen wurden verschoben. Der Kirche gehören vor allem kinderreiche russlanddeutsche Familien an. Sie führen nach Berichten aus der Stadt ein abgeschiedenes Leben - geprägt auch durch die Erfahrung, dass sie als Christen und nationale Minderheit in der Sowjetunion verfolgt wurden. Eine Amtsärztin und Vertreter des Ordnungsamtes suchten die Familien auf, um sie aufzufordern, sich testen zu lassen und die Quarantäne einzuhalten.

Die Ausbrüche in einzelnen sozialen Gruppen bergen die Gefahr, dass sie öffentlich gebrandmarkt werden. Es solle niemand diskriminiert werden, sagte der Bremerhavener Oberbürgermeister Melf Grantz (SPD) dazu. Aber alle Bürger unabhängig von Religion oder Herkunft müssten sich klar an die Regeln halten. Zur Eindämmung der Infektionen „geht es gar nicht anders, als die betroffene Gruppe klar zu benennen“, sagte Stadtsprecher Volker Heigenmooser der dpa.

Gerade im Umgang mit Migrantengruppen bräuchten die Gesundheitsämter Wissen über kulturelle Besonderheiten, so Schmidt-Chanasit. „Es wird keine Lösung von heute auf morgen geben. Man muss Menschen in diesen Gemeinschaften gewinnen, die dann auf andere einwirken.“ Auch Richter setzt auf Multiplikatoren: „Wichtig ist, dass anerkannte Respektspersonen die Verhaltensregeln klarstellen, zum Beispiel ein Vater als Familienoberhaupt.“

Der Medizinsoziologe ordnet die jüngsten Infektionsherde auf einer Skala ein, wie freiwillig oder gezwungen die Gruppen das Risiko eingegangen sind. Am einen Ende sieht er den Ausbruch in einem Lokal in Ostfriesland Mitte Mai: „Mit dem Restaurantbesuch haben sich die Gäste mehr oder weniger freiwillig einem erhöhten Risiko ausgesetzt.“ Am anderen Ende stünden die Fälle in der Fleischindustrie: „Die Leiharbeiter haben keine Wahl gehabt.“ Hier sieht Richter die Arbeitgeber verpflichtet, für gesündere Unterkünfte zu sorgen.

Die Zuckerfest-Infektionen am Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan stehen für ihn in der Mitte - eine Mischung aus religiöser Konvention und Familienfest. Diese Kombination gelte auch für die nichtmuslimische Gesellschaft: „Weihnachten dürfte ganz anders verlaufen als Ostern, denn dann trifft man sich mit der Familie, die Großeltern kommen“, vermutete Richter.

Der Virologe Schmidt-Chanasit sieht die Lage trotz dieser Corona-Hotspots unter Kontrolle. „Diese Ereignisse werden nicht zu einer zweiten Welle führen.“ Dazu seien sie zu begrenzt, die Infektionsketten könnten nachvollzogen werden. „Es wird immer Gruppen geben, die man nicht erreicht. Wichtig ist, dass die Mehrheit sich an die Regeln hält.“ Für ihn ist die Frage, wie sich die großen Anti-Rassismus-Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern auswirken werden. Gefahr drohe auch, wenn wieder Großveranstaltungen stattfinden oder Diskotheken und Bars zum Regelbetrieb zurückkehren.

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Erstellt:
10. Juni 2020, 17:07 Uhr

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