Künstliche Intelligenz

Wer bin ich ohne meinen Job?

Künstliche Intelligenz verändert Berufe grundlegend. Manche verschwinden ganz. Was bedeutet das für Menschen, die sich über ihre Arbeit definieren?

Künstliche Intelligenz ist immer präsenter.

© dpa/Matthias Bein

Künstliche Intelligenz ist immer präsenter.

Von Siri Warrlich

Lina Meilina hat es gewagt. Sie hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. „Ich habe strenge, traditionelle Eltern, die mir sagten, ich würde mit Kunst kein Geld verdienen, aber ich wollte meinen Träumen folgen“, sagte Meilina dem britischen Guardian. Deshalb ist sie Illustratorin geworden. Damit verdient die 30-Jährige in ihrem Heimatland Indonesien ihr Geld, allen Zweifeln ihrer Eltern zum Trotz. Oder besser: Sie verdiente damit ihr Geld.

KI macht Träume zunichte

Seit etwa einem Jahr sei vieles anders, sagt Meilina. „Seit letztem Jahr, als Künstliche Intelligenz durch die Decke ging, sind meine Aufträge eingebrochen. Normalerweise hatte ich etwa 15 Aufträge pro Monat, jetzt sind es etwa fünf.“ Heute kann jeder mit KI-Tools im Handumdrehen und ohne Vorkenntnisse Illustrationen oder Zeichnungen erzeugen. Selbst die indonesische Regierung habe für eine neue Kampagne zu kostenlosem Schulessen KI-Videos benutzt anstatt menschliche Künstler zu beauftragen, beklagt Meilina. Gegen Urheberrechtsverstöße vorzugehen, sei zudem schwer für Künstler. Einer ihrer Follower habe neulich KI benutzt, um Figuren zu zeichnen, die sie erfunden habe. „Ich habe versucht, das zu melden, aber die Internetplattform sagte, das sei im Rahmen ihrer Urheberrechts-Richtlinien.“

KI macht Träume zunichte. Die Einzigartigkeit, die Lina Meilina in ihren Figuren gesehen hat: KI stellt sie infrage. 40 Prozent der Arbeitgeber geben im Report „The Future of Jobs“ des Weltwirtschaftsforums an, dass sie bis 2030 ihre aktuelle Belegschaft reduzieren werden, weil Fähigkeiten der Angestellten an Relevanz verlieren. Zwar variieren die Zahlen, wie viele Stellen durch KI in naher Zukunft wegfallen könnten. Manche halten solche Prognosen für Panikmache. Wahrscheinlich ist aber, dass Künstliche Intelligenz die Arbeitswelt grundlegend verändern wird. Auch wenn nicht allen die Kündigung droht – viele Tätigkeiten werden sich durch KI zumindest stark verändern.

Das berührt tiefgreifende Fragen der Identität. Was macht mich als Mensch eigentlich aus? Viele, gerade jüngere Leute, identifizieren sich enorm über ihren Job: der gewiefte Anwalt, der kreative Kopf in der Werbeagentur mit den witzigsten Ideen, die Journalistin mit den spannendsten Texten. Was bedeutet es für diese Menschen, wenn KI in der Kanzlei besser argumentieren kann, in der Werbeagentur witzigere Ideen vorschlägt und bei der Zeitung ebenso gute Texte schreibt wie der Mensch – nur schneller und ganz ohne Urlaub, Krankentage oder Rentenbeiträge? Viele Menschen, die diese Jobs bislang ausgeführt haben, werden sich fragen, was sie noch ausmacht, wenn die Maschine die Dinge, auf die sie bislang besonders stolz waren, besser erledigt als sie selbst. „Was macht mich einzigartig?“ Neue Antworten auf diese Frage werden künftig womöglich weniger mit dem Beruf und mit Leistungen im Job zu tun haben, wenn KI-Nutzung in der Arbeitswelt voranschreitet.

Chance im Prozess

Dieser Prozess ist traurig und schmerzhaft, aber es könnte auch eine Chance darin liegen. Wer Arbeit in Zukunft primär als Broterwerb sieht, muss nach anderen Wegen suchen, sich selbst zu verwirklichen und neue Antworten auf die Frage nach der eigenen Identität finden. Das könnte ein Ehrenamt sein, etwas, das man für andere tut, für Freunde, Familie, Nachbarn. Wer Arbeit vorwiegend als Broterwerb sieht, lässt sich zudem vielleicht weniger leicht ausbeuten oder organisiert sich eher in einer Gewerkschaft. Einfach wird es nicht. Lina Meilina in Indonesien zweifelt inzwischen an der Entscheidung, ihrem Traum zu folgen. „Vielleicht hatte meine Mutter Recht, dass ich keine Künstlerin sein sollte“, sagt die 30-Jährige.

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Erstellt:
9. Juni 2025, 15:46 Uhr

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