„Wer Zeit investiert, der kriegt Dividende“

Interview Der frühere SPD-Bundesvorsitzende, Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering wirbt dafür, dass sich ältere Menschen auch im Ruhestand in Ehrenämtern engagieren. Dies tut ihnen selbst gut, aber vor allem auch der Gesellschaft.

Franz Müntefering ermuntert die Senioren: „Bleibt dabei! Engagiert euch!“ Die Älteren sind wichtig für die Gesellschaft. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Franz Müntefering ermuntert die Senioren: „Bleibt dabei! Engagiert euch!“ Die Älteren sind wichtig für die Gesellschaft. Foto: A. Becher

+Backnang. Franz Müntefering ist schon 81 Jahre alt, aber immer noch topfit. Der frühere SPD-Bundesvorsitzende sprach am Mittwoch im Backnanger Bürgerhaus zum Thema „Älter werden in dieser Zeit“. Anlass war ein Festakt zum 25-jährigen Bestehen des Seniorenbüros Backnang. In einem Interview warb der ehemalige Bundesarbeitsminister und Vizekanzler dafür, sich auch im Alter zu engagieren. Als aktueller Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) brach er eine Lanze für das Ehrenamt.

Der Schatz der Älteren ist die Zeit – was bedeutet das für Sie?

Menschen im Rentenalter, die keine beruflichen Verpflichtungen mehr haben, haben mehr Zeit, sich Gedanken zu machen und sich zu kümmern – um sich und die anderen. Wer da Zeit investiert, der bekommt auch Dividende. Es lohnt sich, Menschen zu helfen, es lohnt sich, sich in der Gesellschaft einzusetzen und Ehrenämter zu übernehmen und mitzuhelfen, dass die örtliche Gemeinschaft der Älteren, aber auch die Gesamtgesellschaft gut miteinander arbeiten kann. Und da können die Älteren eine wichtige Rolle spielen.

Es gibt aber auch viele Senioren, für die der Eintritt ins Rentenalter bedeutet, endlich keine Verantwortung mehr zu haben, auf dem Sofa zu lümmeln oder zu reisen.

Nein, das bedeutet Ruhestand nicht. Die allermeisten Rentner sind engagiert. Unter den engagierten Menschen in Deutschland sind ganz, ganz viele ältere dabei. Es ist ein völlig falsches Bild von den Alten, dass die alle nur im Liegestuhl sitzen und abwarten, was da kommt. Es sind bei den Senioren mindestens so viele aktiv wie in den Berufstätigen. Das heißt: Wir brauchen die Älteren und es werden mehr Ältere sein als jemals zuvor. Und deshalb bitte ich diese: Bleibt dabei! Engagiert euch! Wobei eine Wahrheit feststeht: Wer sein Leben lang nichts getan hat, der fängt das Ehrenamt im Alter eher selten an.

Sie betonen sehr das Ehrenamt. Kann nicht auch bezahlte Arbeit im Alter erfüllend sein?

Es bleiben immer mehr Menschen in ihrem Beruf tätig, weil sie noch etwas können und gerne arbeiten. Etwa 20 Prozent der Menschen im Rentenalter sind noch berufstätig. Ein Teil, weil sie das Geld brauchen, ein Teil, weil sie gerne ihren Job machen. Aber es gibt darüber hinaus Millionen, die sind in den Vereinen, Verbänden oder Organisationen aktiv, bei der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, bei Demenzkranken oder bei den Damen und Herren in Grün. Ganz viele Menschen sind tätig für die Gesellschaft, ohne dafür einen Lohn zu bekommen. Manchmal werden die Fahrtkosten erstattet, aber das ist es dann auch schon.

Gibt es diesen Menschen etwas Besonderes, dass sie ehrenamtlich arbeiten und sie kein Geld für ihren Dienst bekommen?

Das ist die Verpflichtung, die man für die Gesellschaft empfindet. Die Gesellschaft kann nur existieren, wenn wir alle unseren Beitrag leisten. In jüngeren Jahren macht man das bei der Arbeit, als Selbstständiger oder bei bezahlter Arbeit in einem Unternehmen. Wenn man älter ist, behält man seine Rolle und Aufgabe, in der Gesellschaft mitzuhelfen, um im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten sich zu engagieren. Das sind dann die jüngeren Älteren in ganz besonderer Weise, die 65- bis 75-Jährigen, aber es gibt auch eine Menge 80-Jähriger und darüber, die noch Funktionen in Vereinen und Verbänden haben und die dafür sorgen, dass soziale Kontakte bestehen bleiben.

Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Unterwegs – Älter werden in dieser Zeit“. Wie gehen Sie damit um, wenn die Kräfte nachlassen und die Leistung sinkt?

Da muss man realistisch sein. Die körperlichen Fähigkeiten im Leben entsprechen einer ballistischen Kurve, sie nehmen ab. Darauf muss man sich einstellen und ein bisschen Tempo und Druck herausnehmen. Es geht ja nicht darum, eine volle Woche zu arbeiten, sondern das ist die Frage von ein paar Stunden, die man im Ehrenamt leistet. Aber das macht ja gerade den Pfiff der Sache aus, dass man da, wo man gebraucht wird, hilft und seine Fähigkeiten noch einmal einbringt.

Und in gewisser Weise das Alter annimmt und ihm Rechenschaft leistet.

Ja. Und das tut man auch in den Seniorenbüros. Deshalb ehren wir zum Beispiel diejenigen, die vor 25 Jahren in Backnang mit der Arbeit im Seniorenbüro begonnen haben. Die Menschen wissen, hier kann ich hingehen, die helfen mir, hier kann ich Fragen stellen, die beraten mich.

Worin besteht der größte Unterschied zwischen den Alten früherer Generationen und den heutigen Alten?

(lacht) Die heutigen, das sind mehr, das ist der größte Unterschied. Wir leben länger. Und dazu kommen die hohen Geburtenraten der 50er- und 60er-Jahre. Die sogenannten Babyboomer kommen ins Rentenalter – und das sind größere Kolonnen. Wir haben derzeit fünf Millionen 80-Jährige und darüber, das werden irgendwann sieben oder acht Millionen sein, von denen auch noch viele aktiv sind.

Viele dieser Senioren sind deutlich fitter als die Alten früherer Zeiten.

Das kann durchaus sein. Die individuelle Lebenserwartung ist größer. Und es hilft einem auch, wenn man fit bleibt im Alter. Es gibt auch viele Berufe, die nicht mehr diese große, schwere körperliche Arbeit haben wie bei Eisen und Stahl und Kohle und am Bau. Das ist nochmals ein großer Unterschied. Es soll kein Vorwurf sein gegen diese, die nicht mehr können oder wollen. Aber ein Appell an all jene, die noch können: Macht was! Mischt euch ein! Habt Teil an der Gesellschaft! Seid dabei und erhebt eure Stimme!

Sie empfehlen, die Zeit auch zu nutzen für sich selbst und Gutes zu tun für seinen Körper. Was tun Sie Ihrem Körper Gutes?

Seit 20 Jahren jeden Morgen 20 Minuten Gymnastik. Man muss sowieso ins Badezimmer, da sieht einen dann auch keiner, wenn man sich verrenkt. Männer fahren zwar nicht so auf Gymnastik ab, die wollen immer Sport, die wollen Kampf, die wollen immer gewinnen. Das bringt aber nix. Es geht darum, dass man seinen Körper versucht fit zu halten. Da gehört auch das vernünftige Essen und das Gehen und das Sich-Bewegen dazu. Das sind vernünftige Dinge, die auch noch dazu beitragen, dass, wenn man sie in Gemeinschaft tut, sich soziale Kontakte vertiefen und verbessern.

Was würden Sie der Generation „Fridays for Future“ gerne mit auf den Weg geben?

Sie sollen weiter aktiv bleiben, aber sie sollen in die Demokratie rein und die Veränderung versuchen. Es kommt nicht darauf an, dass man es besser weiß, sondern dass man es besser macht. Das war für mich selbst, als ich 25 Jahre alt war, das Motiv, in die Partei, in die SPD zu gehen und mit Politik anzufangen. Es gibt das schöne Arbeiterlied „Die Gedanken sind frei“, ich singe es immer noch gerne. Aber das reicht nicht, man muss immer auch das Richtige tun. Das Besser-Wissen allein hilft nicht. Die heute Demonstrierenden können in 30 Jahren nicht zu ihren Enkeln sagen, wir haben es damals besser gewusst, aber die anderen haben es nicht gemacht. Sie müssen sich selbst reinschmeißen und versuchen, mit ihrer Kraft und ihrem Engagement die Dinge zu bewegen. In der Sache haben die Jugendlichen recht, keine Frage.

Das Gespräch führte Matthias Nothstein.

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Erstellt:
21. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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