Erst- und Zweitstimme
Wer zieht in den Bundestag ein?
Die Reform des Wahlrechts bei der Bundestagswahl am 23. Februar sorgt dafür, dass die Zweitstimmen wichtiger werden. In welchen Fällen ziehen Kandidatinnen und Kandidaten ins Parlament ein – und wann nicht? Ein Überblick:

© dpa/dpa-Zentralbild/Patrick Pleul
Jeder Wahlberechtigte hat zwei Stimmen – daran hat sich auch bei der Bundestagswahl in diesem Jahr nichts geändert.
Von Michael Bosch
Am 23. Februar wird ein neuer Bundestag gewählt. Dabei gibt es im Wahlrecht einige Änderungen im Vergleich zur vorhergehenden Wahl. Wir erklären, welche Kandidatinnen und Kandidaten in welchen Fällen in den Bundestag einziehen – und wann nicht.
Was hat sich geändert?
Jeder Wahlberechtigte hat weiterhin zwei Stimmen, eine Erst- und eine Zweitstimme. Mit der Erststimme wird ein Kandidat oder eine Kandidatin gewählt, mit der Zweitstimme eine Partei. Allerdings hat sich durch die Wahlrechtsreform das Verhältnis der beiden Stimmen verändert.
Die Zweitstimme ist dadurch wichtiger geworden. Sie entscheidet nun nicht nur darüber, wie viele Sitze jede Partei im Bundestag erhält – und wie groß die Fraktionen sind. Das Zweitstimmenergebnis legt auch fest, wie viele Direktkandidaten in den Bundestag einziehen.
Erst- und Zweitstimme: Vier Szenarien bei der Wahl
Im Grunde gibt es vier Szenarien, wie Kandidatinnen und Kandidaten in den Bundestag einziehen können. Sie unterscheiden sich vor allem im Hinblick auf das Verhältnis von Zweitstimmenanteil und Direktmandaten:
Beispiel 1: Weniger als 5 Prozent Zweitstimmen und kein Direktmandat
Herr Schröder wählt mit beiden Stimmen die S-Partei. Die S-Partei scheitert an der Fünf-Prozent-Hürde und gewinnt auch keinen Wahlkreis. Damit zieht der Kandidat, den Schröder gewählt hat, nicht in den Bundestag ein.
Beispiel 2: Mehr Direktmandate als Sitze durch Zweitstimmenanteil
Herr Schröder wohnt in Baden-Württemberg wählt mit seiner Zweitstimme die S-Partei und gibt auch dem Kandidaten der S-Partei seine Erststimme. Die S-Partei kommt im Zweitstimmenergebnis am Ende bundesweit auf zehn Prozent. Aus dem Zweitstimmen-Ergebnis leitet sich eine bestimmte Anzahl an Mandaten für jedes Bundesland ab. In unserem fiktiven Beispiel entsprechen die zehn Prozent der S-Partei 60 Sitzen. Zugleich gewinnt die S-Partei 70 Wahlkreise (Direktmandate).
Anders als bisher ziehen nicht alle 70 direkt gewählten Vertreter der S-Partei in den Bundestag ein, sondern nur 60. Weil nur diese 60 Sitze durch die Zweitstimme gedeckt sind, spricht man im neuen Wahlrecht von der „Zweitstimmendeckung“. Die Überhangmandate, die in der Vergangenheit dann entstanden, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate errang, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil eigentlich zustanden, fallen weg.
Die 70 Wahlkreissieger der S-Partei werden anschließend nach ihrem Ergebnis sortiert – vom besten (Platz 1) bis zum schlechtesten Ergebnis (Platz 70). Die Wahlkreissieger auf den Plätzen 61 bis 70 ziehen nicht in den Bundestag ein, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen haben. Rangiert der Kandidat, den Herr Schröder gewählt hat, auf den Plätzen 1 bis 60 im internen „Partei-Ranking“, zieht er in den Bundestag ein. Gehört er nicht zu dieser Gruppe, dann nicht.
Beispiel 3: Mehr Sitze durch Zweitstimmenanteile als Direktmandate
Herr Schröder wählt mit seiner Erststimme den Kandidaten der S-Partei, gibt seine Zweitstimme aber der G-Partei. Die S-Partei erhält insgesamt zehn Prozent, was wie in Beispiel 2 60 Sitzen entspricht. Anders als in Beispiel 2 gewinnt die S-Partei dieses Mal aber nur 20 Direktmandate.
In diesem Fall kommen die Listenplätze ins Spiel. Diese stellt jede Partei für ein Bundesland, und unabhängig von den anderen Landeslisten, zusammen. Die Kandidaten auf den Listenplätzen kommen nur dann zum Zug, wenn die Partei weniger Direktmandate erzielt, als ihnen durch die Zweitstimme an Sitzen im Bundestag zusteht.
In unserem fiktiven Fall ziehen alle Direktmandate in den Bundestag ein, und die restlichen Sitze werden nach der Reihenfolge auf der Liste (und dem Zweitstimmenanteil der Partei, die ihr im jeweiligen Bundesland zusteht) besetzt. Befindet sich der Kandidat, den Schröder gewählt hat darunter (Direktmandat oder entsprechender Listenplatz), zieht er in den Bundestag ein.
Beispiel 4: Drei Direktmandate – und Einzug über die Grundmandatsklausel
Die Grundmandatsklausel soll dem Umstand Rechnung tragen, dass auch die Belange „kleinerer“ Parteien im Bundestag berücksichtigt werden. Erringt eine Partei drei Direktmandate zieht sie automatisch in den Bundestag ein, auch wenn ihr Zweitstimmen-Ergebnis bundesweit unter fünf Prozent beträgt. Mit der Wahlrechtsreform sollte die Grundmandatsklausel eigentlich gestrichen werden, das Bundesverfassungsgericht erklärte das aber für verfassungswidrig. Dementsprechend muss die neue Regierung noch nachbessern. Provisorisch wurde die Klausel zur Bundestagswahl 2025 wieder in Kraft gesetzt.
Genauere Rechenbeispiele zur Sitzverteilung hat die Landeszentrale für politische Bildung hier aufgeführt.
Und wie soll man jetzt wählen?
Strategisches Wählen – also mit der Zweitstimme nicht die Partei wählen, zu der der Kandidat gehört, dem man die Erststimme gegeben hat – ist nach wie vor möglich, allerdings bringt das neue Wahlsystem deutlich mehr Unsicherheit mit sich.
Selbst etablierte Kandidaten können sich nicht von vorneherein sicher sein, dass sie in den Bundestag einziehen, auch wenn sie ein Direktmandat erringen. „Wenn Sie als Wähler sichergehen wollen, dass Ihr Kandidat oder Ihre Kandidatin Ihre Anliegen im Bundestag repräsentiert, sollten Sie zwei Kreuze bei derselben Partei machen“, schreibt Benjamin Hahn, Referatsleiter für Verfassung, Europäische Integration, Innere Sicherheit der Akademie für Politik und Zeitgeschehen bei der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in München. Vertreter von Kleinparteien dürften das anders sehen als Hahn.