Wahlkampf auf Tiktok

Wie die Linke das AfD-Monopol auf Tiktok geknackt hat

Erstmals hat eine Partei der schlechten Laune der AfD etwas erfolgreich entgegengesetzt. Derweil versuchen Forscher, Tiktok besser zu verstehen. Dabei kann jeder mithelfen.

Politikerinnen und Politiker auf Tiktok – jeder präsentiert sich auf seine Weise.

© Linke, CDU und AfD bei Tiktok/

Politikerinnen und Politiker auf Tiktok – jeder präsentiert sich auf seine Weise.

Von Jan Georg Plavec

Die vielen Stimmen für die Linkspartei und die rechtspopulistische AfD unter jüngeren Wählern werden gern mit deren erfolgreicher Tiktok-Strategie erklärt. Laut Infratest Dimap hatte die Linke unter den 18- bis 24-Jährigen 17 Prozentpunkte mehr Zweitstimmen als bei der letzten Wahl, die AfD 14 Prozentpunkte – ungefähr im selben Umfang verloren Grüne und FDP bei den Jungwählern.

Wie viel Tiktok steckt in diesen Verschiebungen? Wie verändert die Smartphone-App mit den zackig geschnittenen und im Sekundentakt weggewischten Videos den Wahlkampf und politische Alltagsgespräche? Das wird von vielen kommentiert, von einigen auch erforscht.

Jakob Ohme tut das am Berliner Weizenbaum-Institut. „Tiktok wurde im Wahlkampf 2025 zum ersten Mal als etablierte und relevante Plattform betrachtet“, sagt er. Ohme und seine Kollegen erforschen Tiktok datenbasiert. Sie zählen beispielsweise die Videos, die Parteien und Politiker dort hochladen. Im Wahlkampf stieg die Kurve steil an: Anfang Januar waren es um die 100 Clips pro Tag, am Tag vor der Wahl fünfmal so viele: 121 von der AfD, 111 von der SPD, 84 von den Grünen.

Nutzer können Daten spenden

Viel hilft viel. Das gilt auch auf Tiktok, aber anders. Auf der Plattform entscheidet der Algorithmus, welche Inhalte User sehen und welche nicht – weil Tiktok permanent misst, welche Videos mit welchen Themen ein User länger ansieht als andere. Diese Daten gibt Tiktok nicht an Forscher heraus – dafür an einzelne User, den EU-Datenschutzregeln sei Dank.

Die Tiktok-Nutzer können diese Daten herunterladen und anonym für die Forschung zur Verfügung stellen – eine sogenannte Datenspende. Ohme und sein Team sammeln aktuell gemeinsam mit der Uni Zürich, dem BR sowie Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten solche Datenspenden. Nur so lässt sich herausfinden, wer welche Inhalte zu sehen bekommt, ob also der Algorithmus die User in Filterblasen schickt oder ein politisch breites Themenangebot ausbreitet.

Die Vermutung der Forscher: Jeder sieht auf Tiktok etwas Anderes, dafür aber mehr vom Gleichen. Wer Inhalte der Linkspartei ansprechend findet, sieht rasch vor allem deren Videos und nichts von AfD, CDU oder den Grünen. Das ist zwar nicht zwingend das, was die Linkspartei oder ihre Politiker posten. „Besonders wichtig sind Unterstützer-Netzwerke“, sagt Ohme. Diese Netzwerke entstehen aber um charismatische Politikerinnen wie Heidi Reichinnek, die auf Tiktok längst Hunderttausende erklärte Follower hat. Wenn viele von denen selbst Videos mit politischen Botschaften produzieren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Tiktok-Algorithmus anderen, politisch bislang nicht klar einsortierten Usern Linkspartei-nahe Inhalte vorschlägt.

Auf die wichtigste Frage gibt es keine Antwort

So verstehen das bisher die Forscher und die Wahlkampfstrategen in den Parteizentralen. Weniger bekannt sind wichtige Details: Welche politischen Botschaften kommen überhaupt an, wenn User in hohem Tempo durch die stark verdichteten Clips zappen? Was funktioniert dort neben der von der AfD kultivierten negativen Stimmung? Und wie beeinflusst der Tiktok-Konsum letztlich die Wahlentscheidung?

Auf die letzte Frage gibt es bislang keine Antwort, gesteht Jakob Ohme: „Das zu untersuchen, ist extrem aufwendig.“ Was man dagegen weiß: Menschen merken sich Informationen schlechter, wenn sie sie in sozialen Medien sehen – auf Tiktok meist nur wenige Sekunden betrachtete Videoschnipsel. Weil dort mehr Reize geboten werden als etwa auf Nachrichten-Websites, verschieben Tiktok-User ihre Zeitbudgets für die Mediennutzung hin zu der Videoplattform – und informieren sich seltener aus anderen Quellen. Das ergeben beispielsweise eine Erhebung des Hans-Bredow-Instituts oder eine Studie des „Use the News“-Konsortiums.

Dass Tiktok die politische Kommunikation auch auf anderen Kanälen schon jetzt verändert, davon ist Richard Schwenn überzeugt. Für die Politikberatung Polisphere analysiert er digitale Wahlkämpfe, er hat etwa die Tiktok-Aktivitäten untersucht, die im Dezember zur Annullierung der rumänischen Präsidentschaftswahl geführt haben. „Im Bundestagswahlkampf haben sich die Inhalte aller Parteien dem Tiktok-Appeal angenähert“, sagt der Politikanalyst: „Es gab kürzere, zugeschnittenere, emotionalere Inhalte. Und sie hatten ein klares Feindbild.“

Schwenn bezieht sich auf „Sparta“-Projekt der Bundeswehr-Uni München, das die politischen Inhalte in den sozialen Medien vermisst. Mehr als jeder vierte Beitrag in den Netzwerken X (vormals Twitter), Youtube und TikTok stellte demnach die Politik oder Kandidaten anderer Parteien negativ dar. Bei AfD und Linkspartei war der Anteil interessanterweise deutlich geringer als bei FDP und SPD. Allerdings misst das Projekt nur die Beiträge offizieller Partei- oder Politikeraccounts – nicht das, was die in einer WDR-Doku so bezeichnete „Tiktok-Armee“ an Inhalten in das Netzwerk spült: „Die Leinwand ist Tiktok, die Pinsel KI und die Maler sind eine Armee“.

Das Ziel: eine eigene Tiktok-Armee

Bislang wird nur der AfD eine solche Armee zugeschrieben. Wie lange dauert es, bis auch die anderen Parteien eine haben? „Die Social-Media-Teams der Parteien werden definitiv versuchen, so etwas aufzubauen“, glaubt Richard Schwenn, „aber du brauchst genug Menschen, die da richtig aktiv werden – und auch noch gut ankommen“. Und natürlich die passenden Themen. Die Linkspartei mache gerade vor, wie es gehen kann, glaubt Schwenn. „Sie hat emotionale Botschaften: gegen Rassismus, für bezahlbares Wohnen, für Veränderung statt Machthunger. Und mit Heidi Reichinnek eine charismatische Spitzenkandidatin.“

Manche politischen Themen, so scheint es, haben es auf Tiktok leichter als andere. Und das hat neben der Aufmachung damit zu tun, wer sie verbreitet. „Politische Themen dringen auf Tiktok nur durch, wenn die relevanten Content Creators sie als wichtig wahrnehmen“, sagt Jakob Ohme. Content Creators, also Inhalteersteller, sind all jene, die auf Tiktok regelmäßig Videos hochladen und sich auf bestimmte thematische Zugänge oder Formate spezialisieren, um wiedererkennbar zu werden. „Das heißt konkret: Wenn eine aktuelle politische Diskussion über das zukünftige Rentenniveau aus Sicht der AfD- oder Linkspartei-Creators nicht wichtig sind, hast du kaum eine Chance, das auf Tiktok zu setzen“, sagt Ohme. Die Rentendiskussion kommt dann in der Welt von Menschen, die überwiegend Tiktok für die politische Information nutzen, sehr wahrscheinlich nicht vor.

Das muss freilich nicht so bleiben. Nach der Wahl ist vor der Wahl, spätestens im Wahlkampf 2029 wird sich zeigen, welche Parteien aus den Erfolgen von AfD und Linkspartei gelernt haben – und wie sie zu den Unter-40-Jährigen durchdringen, die den Großteil der knapp 21 Millionen monatlichen Tiktok-Nutzer hierzulande ausmachen. Die Linke habe dieses Jahr erstmals den stark negativen Inhalten der AfD etwas Erfolgreiches entgegengesetzt, findet Jakob Ohme: „Ihre Tiktok-Videos waren positiver, geradezu freudestrahlend, auch bei an sich belastenden Themen.“ Finden auch die Parteien der Mitte künftig Wege, ihre Programme in die Tiktok-Welt zu übersetzen?

Die bisherigen Volksparteien CDU und SPD werden sich damit aber ungleich schwerer tun als Parteien mit engerem Themenspektrum, glauben Ohme und Schwenn. Deren Anhänger verbrächten schlicht nicht so viel Zeit auf Tiktok. Außerdem: „Was ist deren Einsatzantwort auf die Frage, wer sie sind? Wer sind die Kernwähler, die du digital herzeigen kannst?“, fragt Schwenn. Er denke an Lageristen bei Amazon oder Menschen, die bei Lieferando Essen ausfahren.

Daten spenden – so geht’s

Datenspende Dank der EU-Datenschutzregeln müssen Plattformen wie Tiktok ihren Usern alle von ihnen gespeicherten Daten zur Verfügung stellen. User können die Daten dann Forschern anonym zur Verfügung stellen (Datenspende). An der Uni Zürich gibt es ein eigenes Team dafür. Die Datenspende hilft den Forschern beispielsweise zu verstehen, welche politischen Inhalte Tiktok Usern anzeigt – ob sie also etwa ein ausgewogenes Angebot sehen oder nur Beiträge von einer Partei.

Mitmachen Das Weizenbaum-Institut und die Uni Zürich rufen aktuell Tiktok-User zu einer solchen Datenspende auf. Das Herunter- und anonyme Wieder-Hochladen dauert nur wenige Minuten, als Belohnung gibt es eine Sofort-Auswertung des eigenen Feeds. Alle Informationen zum Projekt gibt es auf www.dein-feed-deine-wahl.de

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Erstellt:
2. März 2025, 08:10 Uhr
Aktualisiert:
2. März 2025, 10:58 Uhr

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