Wie mit Lügen gegen die Bundestagswahl geschossen wird

dpa Berlin. Zuletzt hat die US-Präsidentenwahl gezeigt: Über Falschbehauptungen nehmen Verschwörungsideologen demokratische Prozesse ins Visier - mit teils gewalttätigen Folgen. Was heißt das für Deutschland?

Dunkle Wolken ziehen über das Reichstagsgebäude in Berlin. Foto: picture alliance / Sven Hoppe/dpa

Dunkle Wolken ziehen über das Reichstagsgebäude in Berlin. Foto: picture alliance / Sven Hoppe/dpa

Wahlbetrug! Das Gespenst einer vermeintlich manipulierten Bundestagswahl wird schon seit langem in dunklen Ecken des Internets heraufbeschworen - und erreicht immer häufiger die nette Nachbarin oder die Whatsapp-Gruppe des Sportvereins.

In sozialen Medien fänden sich insbesondere jetzt gezielte Kampagnen gegen Parteien und einzelne Kandidatinnen und Kandidaten - „genauso wie Versuche, demokratische Prozesse als Ganzes zu delegitimieren“, so das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), das unter anderem Desinformation und Radikalisierungstendenzen in sozialen Medien beobachtet.

Geraunt wird viel: Briefwahlunterlagen würden ungefragt an Wahlberechtigte verschickt; in einer Ecke gelochte Wahlzettel seien ungültig; bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 50 Prozent sei die Abstimmung illegal; oder Wahllokale gewährten nur Geimpften und Genesenen Zutritt. Alles Humbug, alles erlogen.

Besonders im Fokus: die Briefwahl. Von AfD-Politikern, die selbst ins Parlament gewählt werden wollen, ist zum Beispiel zu hören: Stimmen für ihre Partei gingen etwa auf dem Postweg vorsätzlich verloren. Ein völlig unlogischer Vorwurf. Denn die Stimmzettel werden erst am Wahlabend aus den Briefumschlägen herausgenommen; zuvor ist nicht zu erkennen, bei welcher Partei das Kreuz gemacht wurde.

Es habe bei vergangenen Wahlen „seltene Einzelfälle“ gegeben, bei denen versehentlich einige wenige Briefwahlunterlagen nicht zum Wahllokal geliefert wurden, heißt es von Bundeswahlleiter Georg Thiel. „Vorsätzliche Fälle sind uns nicht bekannt“, teilte dessen Büro auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit.

Desinformationen gelangen vor allem über unregulierte soziale Medien wie den Messengerdienst Telegram in die Welt. „Telegram ist aktuell die Plattform für Rechtsextremisten und Verschwörungsideologen“, sagt Politikwissenschaftler Josef Holnburger. Er ist Datenwissenschaftler und einer der Geschäftsführer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), das unter anderem Desinformation und Radikalisierungstendenzen in sozialen Medien beobachtet.

Was sich auf Telegram sehr stark verbreite, werde auch bald die verschwörungsideologische Szene dominieren, so Holnburger. Die Lügen schwappen auf andere soziale Medien über und landen plötzlich in der Facebook-Gruppe des Onkels oder auf Whatsapp bei Mama.

Ein Beispiel: Es wird behauptet, dass derzeit flächendeckend Briefwahlunterlagen verschickt würden, ohne dass Wahlberechtigte dies beantragt hätten - unter anderem „in halb Hamburg“. Das sei eine Straftat. Und wer an der Wahl teilnehme, sei ein Straftäter.

Doch das stimmt überhaupt nicht. Vom Landeswahlleiter der Hansestadt, Oliver Rudolf, heißt es: Es liege „keine Kenntnis darüber vor, dass nicht beantragte Briefwahlunterlagen versandt werden“. Auch deutschlandweit sind Bundeswahlleiter Thiel „keine Fälle bekannt“. Beide Behörden wachen über den ordnungsgemäßen Wahlablauf.

Solche Klarstellungen verpuffen allerdings in Verschwörungs-Kreisen. Entweder sie bekommen die Stellungnahmen überhaupt nicht mit oder lassen diese grundsätzlich nicht gelten. Denn ein gewisser Teil von ihnen lehnt das politische System und seine Organe ab - etwa die sogenannten Reichsbürger, die die Existenz der Bundesrepublik als souveräner Staat leugnen.

Anders als bei Facebook, Youtube und Twitter werden Beiträge auf Telegram weitgehend unreguliert und ohne Gegenposition verbreitet. Während soziale Medien eigentlich Interaktionen der Community hervorrufen sollen, ist Telegram im deutschsprachigen Raum zumeist ein Sprachrohr ganz ohne Widerworte. Eine „ziemlich große Echokammer“ nennt es Holnburger, „in die man hineinspricht und eine Bestätigung hört“.

Daher bleibt auch die hanebüchene Äußerung im Raum stehen, mit der Teilnahme an der Wahl mache man sich zum Straftäter. Denn selbst wenn irgendwo in Deutschland vereinzelt etwa eine (versuchte) Fälschung bei der Briefwahl nachgewiesen würde (die immerhin bis zu fünf Jahre Haft nach sich ziehen könnte), macht das noch lange nicht die ganze Abstimmung illegal - geschweige denn all jene zu Straftätern, die ihre Stimme regulär abgeben.

Doch was ist der Sinn all dieser Lügen? Wählende von der Urne fernzuhalten und der gesamten Wahl die Legitimation abzusprechen. „Die Erzählung, dass alle Politiker böse sind“, sagt Holnburger. „Das ist natürlich ein verschwörungsideologisches Narrativ, in dem eine Gruppe zum absolut Bösartigen auserkoren wird.“ Diese wolle all das herbeiführen, was illegitim sei - darunter eben auch Wahlbetrug.

Nach CeMAS-Untersuchungen zeigt vor allem die US-Präsidentenwahl, wie die Mobilisierung im Netz zu einer realen Gefahr werden kann. Nach dem Sieg Bidens im November 2020 seien die Nachrichten zum Thema Wahlbetrug in öffentlichen Telegram-Gruppen und -Kanälen in die Höhe geschnellt. „Die permanente Wiederholung von Falschbehauptungen in Kombination mit der Mobilisierung gegen Briefwahlen als Vehikel eines angeblichen Wahlbetruges gipfelte dort in der Stürmung des Kapitols im Januar 2021“, heißt es von den Analysten.

Die Briefwahl als Tor zum Betrug? Das Bundesverfassungsgericht sieht zwar die Gefahr, dass nur schwer kontrolliert werden könne, ob ein Wahlschein zu Hause selbst und ohne Beeinflussung ausgefüllt werde. Andererseits können sich so viele Menschen wie möglich an der Wahl beteiligen - auch diejenigen, die etwa arbeiten müssen oder deren Mobilität eingeschränkt ist. Es ist also eine Abwägungssache. Mehrfach hat Karlsruhe die Briefwahl als verfassungskonform angesehen.

Weil zum Beispiel häufiger in der Stadt per Post abgestimmt wird als auf dem Land, oder weil eher progressive Menschen das Instrument nutzen als konservative, kann es im Vergleich von Brief- und Urnenwahl durchaus unterschiedliche Ergebnisse geben. Dies aber wollten oder könnten Verschwörungsideologen nicht verstehen, sagt Holnburger. Und damit säten sie Zweifel. Man versuche, eine demokratisch legitimierte Wahl zu zerstören und das Vertrauen darin zu erodieren. „Das ist gefährlich für unsere Demokratie insgesamt.“

Und nach der Wahl? „Unabhängig vom Ergebnis fühlen sich die Leute in dieser Szene nicht repräsentiert durch die Politiker, die gewählt werden“, so der Wissenschaftler. Er erwartet, dass dann das Thema Wahlbetrug richtig groß wird. Showdown ist am 26. September.

© dpa-infocom, dpa:210916-99-238114/3

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Erstellt:
16. September 2021, 08:17 Uhr

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