Wie bei Menschenkindern

Wie Schimpansen-Mütter ihren Nachwuchs prägen

Ein Herz und eine Seele oder eher distanziert? Affen-Mütter und ihr Nachwuchs scheinen ähnliche Beziehungsmuster zu haben wie Menschen. Doch es gibt auch einen großen Unterschied.

Die Schimpansen-Mutter Xela kümmert sich um ihren Nachwuchs Xort. Forscher haben Affen an der Elfenbeinküste beobachtet und ähnliche Beziehungstypen erkannt wie bei Menschen.

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Die Schimpansen-Mutter Xela kümmert sich um ihren Nachwuchs Xort. Forscher haben Affen an der Elfenbeinküste beobachtet und ähnliche Beziehungstypen erkannt wie bei Menschen.

Von Markus Brauer

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie die Beziehung zu Ihren Eltern in Ihrer Kindheit Sie zu dem Menschen gemacht hat, der Sie heute sind? Forscher wissen seit langem, dass die frühe Bindung an Bezugspersonen eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwicklung spielt, aber wie sieht es bei einem unserer nächsten Verwandten aus, dem Schimpansen?

Selbstbewusst mit der Mutter als sicherem Rückhalt oder eher unsicher und auf sich gestellt? Die Beziehungen von Baby-Schimpansen zu ihren Müttern scheinen erstaunliche Ähnlichkeiten zu menschlichen Mutter-Kind-Beziehungen zu haben.

Das beschreibt ein Team um Eléonore Rolland vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachblatt „Nature Human Behaviour“.

The origins of #language. Wild #chimpanzees alter single calls' meaning when embedding them into call combinations. Study led by Cédric Girard-Buttoz, Cathy Crockford & Roman Wittig. @CNRS@MPI_EVA_Leipzig@ISC_MJ@TaiChimpProjecthttps://t.co/XGErZqhnNA & https://t.co/8vYpfEpbecpic.twitter.com/ckawvTaHt8 — MPI-EVA Leipzig (@MPI_EVA_Leipzig) May 9, 2025

Entwicklung ähnlich wie bei Menschenkindern

Indem sie das Verhalten von freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste über einen Zeitraum von vier Jahren beobachteten, fanden Forscher heraus, dass junge Schimpansen, genau wie Menschenkinder, verschiedene Typen von Bindungen zu ihren Müttern entwickeln.

Einige fühlen sich sicher, verlassen sich in Zeiten der Not auf ihre Mutter und erkunden selbstbewusst ihre Umgebung, weil sie wissen, dass die Mutter für sie da ist.

Andere haben eine unsicher-vermeidende Bindung, was bedeutet, dass sie unabhängiger sind und nicht so sehr den Beistand der Mutter suchen.

Im Gegensatz zu Menschen, bei denen 23,5 Prozent der Kinder eine desorganisierte Bindung haben, und in menschlicher Obhut lebenden Schimpansenwaisen, von denen 61 Prozent diesen Bindungstyp aufweisen, zeigen Schimpansen in freier Wildbahn keine Anzeichen desorganisierter Bindung.

Wie Angst, Aggression oder Trauma entstehen

Beim Menschen entsteht eine desorganisierte Bindung, wenn ein Kind Angst, Trauma oder Aggression durch seine Bezugsperson erlebt. Als Folge kann das Kind widersprüchliche Verhaltensweisen zeigen, indem es Zuneigung sucht, aber auch Angst vor der Bezugsperson hat.

Diese Art der Bindung kann zu Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation, der sozialen Integration und zu langfristigen psychischen Problemen führen. Eine desorganisierte Bindung gilt als maladaptiv – also schlecht angepasst –, weil sie das Kind im Unklaren darüber lässt, wie es in Zeiten der Not reagieren soll. Das beeinträchtigt die Fähigkeit des Kindes zur effektiven Bewältigung der Notsituation und kann sein Überleben insgesamt gefährden.

Keine desorganisierte Bindung bei freilebenden Schimpansen

In menschlicher Obhut lebende Schimpansen, insbesondere von Menschen aufgezogene Waisenkinder, entwickeln häufig desorganisierte Bindungen, wahrscheinlich aufgrund des Fehlens einer festen Bezugsperson.

In freier Wildbahn hingegen, wo Schimpansen in stabilen Familienstrukturen aufwachsen und dem natürlichen Überlebensdruck durch Raubtiere ausgesetzt sind, fanden die Forscher keine Hinweise auf desorganisierte Bindungen.

„In freier Wildbahn haben wir keine Hinweise auf desorganisierte Bindungsmuster gefunden, was die Annahme unterstützt, dass diese Art der Bindung möglicherweise keine adaptive Überlebensstrategie gegenüber Umwelteinflüssen ist“, sagt Erstautorin Eléonore Rolland.

Dies deutet darauf hin, dass es zwar gelegentlich zu desorganisierten Bindungen bei freilebenden Schimpansen kommen kann, diese Individuen aber wahrscheinlich nicht überleben oder sich fortpflanzen.

Kindererziehung beim Menschen neu betrachtet

Die Bindungstheorie ist ein Schlüsselkonzept in der Psychologie, das erklärt, wie frühe Beziehungen die emotionale und soziale Entwicklung eines Menschen beeinflussen. Eine sichere Bindung ist mit Selbstvertrauen und Resilienz verbunden, während eine unsichere und desorganisierte Bindung zu Angst, Stress oder Beziehungsschwierigkeiten führen kann.

Die Tatsache, dass Schimpansen in freier Wildbahn nur sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zeigen, wirft neue Fragen über die Kindererziehung beim Menschen auf. „Die Ergebnisse unserer Studie erweitern unser Wissen über die soziale Evolution bei Schimpansen und zeigen, dass Menschen und Schimpansen gar nicht so verschieden sind“, erklärt Eléonore Rolland.

„Sie geben uns aber auch zu denken: Haben sich einige menschliche Institutionen oder Betreuungspraktiken möglicherweise von dem entfernt, was für die Entwicklung von Kleinkindern am besten ist?“

Einblicke in Ursprünge menschlichen Sozialverhaltens

„Durch die Identifizierung von Bindungsmustern bei freilebenden Schimpansen gewinnen wir wichtige Erkenntnisse über die Ursprünge des menschlichen Sozialverhaltens“, erläutert Roman Wittig, leitender Autor und Leiter des Taï Chimpanzee Project.

Die Studie schlägt eine Brücke zwischen Psychologie, Tierverhalten und Anthropologie und erklärt, wie sich Bindungsstrategien über Artgrenzen hinweg entwickelt haben könnten. Catherine Crockford, leitende Autorin und Forschungsgruppenleiterin an der Université Claude Bernard Lyon1, fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bindungsstrategien bei Primaten ein gemeinsames evolutionäres Erbe widerspiegeln könnten.“

Schimpansen und Menschen besser zu verstehen

Die hohe Prävalenz desorganisierter Bindungen bei Menschen und Schimpansenwaisen in menschlicher Obhut im Gegensatz zu freilebenden Schimpansen unterstütze zudem die Annahme, dass das Umfeld während des Aufwachsens eine wichtige Rolle bei der Ausprägung von Bindungstypen spiele.

Diese Erkenntnisse helfen uns, Schimpansen und Menschen besser zu verstehen, und regen zum Nachdenken darüber an, wie frühe Lebenserfahrungen die soziale und emotionale Entwicklung verschiedener Spezies beeinflussen können.

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Erstellt:
13. Mai 2025, 12:30 Uhr

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