Wie (über)lebt man in der Diktatur?

Bei einem Rundgang durch den Ortskern von Unterweissach bewegen sich die Teilnehmer auf den Spuren von Bürgerinnen und Bürgern im Dritten Reich. Ihre Geschichten sollen zeigen, wie der Nationalsozialismus auf lokaler Ebene funktionierte.

Digital trifft analog: Die Teilnehmer des Rundgangs mit dem Actionbound „Diktatour“ gleichen bestehende Gebäude mit einem Bild aus der Vergangenheit ab. Fotos: A. Becher

© Alexander Becher

Digital trifft analog: Die Teilnehmer des Rundgangs mit dem Actionbound „Diktatour“ gleichen bestehende Gebäude mit einem Bild aus der Vergangenheit ab. Fotos: A. Becher

Von Simone Schneider-Seebeck

Weissach im Tal. „Wir gedenken der Opfer von Hass und Gewalt“, zitiert Jürgen Hestler, Vorsitzender des Heimatvereins Weissacher Tal, den Bundespräsidenten und fügt hinzu: „Was die Studenten der Pädagogischen Hochschule erarbeitet haben, eignet sich sehr gut als Gedenkveranstaltung für den Volkstrauertag.“ Wohl wahr, denn jeder Ort hat seine eigenen Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Diese bekannt, erlebbar und vielleicht auch ein Stück nachvollziehbar zu machen für die nachfolgenden Generationen, das ist ein Anliegen von Carolin Hestler von der Abteilung Geschichte im Institut für Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und dem Heimatverein Weissacher Tal.

An vier Stationen erzählt die Historikerin auf der Gässlestour exemplarisch von Weissacher Bürgerinnen und Bürgern während des Dritten Reichs – und lässt den zahlreichen Teilnehmern Raum zum Nachdenken. Da ist zum einen Volksschullehrer Wilhelm Krazer, zu dem die Historikerin einige Belege gefunden hat. Doch was sagen diese über die Person aus? War das Mitglied in verschiedenen NS-Organisationen wirklich ein überzeugter Nationalsozialist und hat deshalb seinen eigenen Namen in „Pfister“ geändert, weil ihm Krazer zu „jüdisch“ klang – oder lag das eher daran, dass er nicht länger den Namen seines Stiefvaters tragen wollte? „Persönliche Gründe können niemals genau ermittelt werden“, sagt Carolin Hestler.

Als Vertreter der Kirche dient auf dieser Tour Eberhard Auer, von 1933 bis 1942 Pfarrer der evangelischen Kirche. Überliefert von ihm ist der zunächst verweigerte Hitlergruß im Klassenzimmer, was eine ernste Unterredung mit dem Bezirksschulrat zur Folge hatte – danach wurde der Hitlergruß in seiner Schulklasse korrekt ausgeführt. Was hatte ihn zum Sinneswandel bewogen? In seinen Predigten hatte er sich wohl nie politisch geäußert, auch der Fall „Hitlergruß“ wurde in den Gemeinderatsakten außen vor gelassen. Bekannt ist jedoch, dass Auer bereits 1942 mit etwas über 40 Jahren in den Ruhestand versetzt wurde, nachdem ihm ein (allerdings vorübergehendes) seelisches Ungleichgewicht bescheinigt worden war. Konnte er die politische Situation nicht mehr mit seinen Überzeugungen in Einklang bringen und stellte sich deshalb „nervlich instabil“?

Von 1914 bis 1934 leitete Friedrich Breitling als Bürgermeister die Geschicke der Gemeinde an der Weißach. Drei Wochen nach dem Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ließ er sich wegen Dienstunfähigkeit krankschreiben und reichte immer wieder entsprechende Bescheinigungen nach. Wollte er sich den nationalsozialistischen Machthabern nicht beugen? Der damalige Ortsgruppenführer wünschte sich zumindest einen Nachfolger, der die nationalsozialistischen Ideale intensiver vertrat und durchsetzte.

Als nächstes Beispiel hat Historikerin Carolin Hestler die Geschichte von Willy Rieger gewählt. Ein junger Mann, der als Schmied arbeitete, Fußball spielte, ein fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft war – und dennoch den Behörden als „nicht arisch“ gemeldet wurde. Denn er war dunkelhäutig. Zu vermuten ist, dass dem damaligen Bürgermeister schlicht nichts anderes übrig blieb, als ihn zu melden. Rieger konnte aufgrund seiner auffälligen Hautfarbe nicht versteckt werden, jeder kannte ihn. Wäre er nicht gemeldet worden, wären Konsequenzen nicht ausgeblieben. Dass den Anordnungen von oben auch Widerstand entgegengebracht wurde, wird wiederum dadurch belegt, dass andere „Nicht-Arier“ oder „Lebensunwerte“ versteckt und nicht gemeldet worden waren. Riegers Geschichte endete tragisch. Kurz nach seiner Zwangssterilisation starb er.

Eines haben die Geschichten, die Carolin Hestler recherchiert hat, gemein – es sind authentische Geschichten. „Wir wissen, wie Diktaturen von oben funktionieren“, resümiert Jürgen Hestler am Ende. „Doch die Frage ist: Wie haben sie im Kleinen funktioniert? Wir können Geschichte nicht definitiv schreiben, vieles bleibt uns überlassen. Wie ordnen wir Dinge ein?“ Für die Studierenden kristallisierte sich während der Archivarbeit bald heraus, dass die Weissacher sich oft in einer Zwickmühle befanden, entweder zwischen Ideologie oder Dorfgemeinschaft wählen zu müssen. Auch wir als heutige Generation sollten uns dies immer wieder vor Augen führen. Und bedenken, dass wir, die wir in vollkommen anderen Lebensumständen leben, uns nur unzureichend vorstellen können, welche Konflikte jeder Einzelne mit sich auszutragen hatte. Gewissermaßen als Fazit fasst es Freha Müller zusammen, die gemeinsam mit Tochter Mara bei der Tour durch Unterweissach mitspaziert ist: „Die Geschichte rückt immer weiter in die Vergangenheit. Es ist wichtig, dass man genau hinschaut und daraus lernt, was passiert ist.“

Wie (über)lebt man in der Diktatur?

© Pressefotografie Alexander Beche

„Wir wissen, wie Diktaturen
von oben funktionieren. Doch
die Frage ist: Wie haben sie
im Kleinen funktioniert?“

So kam es zum Actionbound

Anstoß „Da ist ein verbotenes Zeichen darauf“, war Schülern während eines Besuchs im Heimatmuseum aufgefallen, es ging um ein Hakenkreuz auf einem Getreidesack. Historikerin Carolin Hestler war mit ihnen ins Gespräch gekommen und hatte festgestellt: „Ich konnte die Fragen nach Weissachs Vergangenheit nicht beantworten.“ Sie begann mit ihren Studierenden nachzurecherchieren, wie es Unterweissach während des Dritten Reiches ergangen war.

Geschichten Herausgekommen sind persönliche Geschichten aus Weissach. Daraus entwickelte sich zunächst der Actionbound „Diktatour“, der exemplarisch einige Weissacher Bewohner während dieser Zeit vorstellt und dabei durch den Ortskern führt (wir berichteten). Dabei erhebt er allerdings nicht den Anspruch, alle Fragen nach der Vergangenheit aufzulösen. Dasselbe gilt auch für das Buch, das im kommenden Jahr erscheinen wird und sich mit den Ergebnissen der umfangreichen Recherchearbeiten befasst. Auch hier werden viele Fragen offenbleiben, sagt Carolin Hestler, die mit ihrer Arbeit auch aufzeigen möchte, dass es auf historische Fragen keine einfachen Antworten geben kann. Für den Vereinsvorsitzenden Jürgen Hestler ist es ein großes Anliegen, „dass man junge Leute ins Museum holt“, daher gibt es eine enge Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule sowie den Weissacher Grundschulen.

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Erstellt:
16. November 2021, 06:00 Uhr

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