„Wir haben heutzutage vor allem sehr viel Mischkonsum“

Das Interview: Dorothea Aschke, Leiterin der Caritas-Suchthilfe Backnang, erzählt, welche Drogen hier im Landkreis am meisten Probleme bereiten

Dorothea Aschke. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Dorothea Aschke. Foto: A. Becher

Von Silke Latzel

Frau Aschke, wie sieht es im Jahr 2019 aus: Gibt es immer mehr Drogenabhängige oder gehen die Zahlen zurück?

Dazu kann ich nichts sagen, da wir in der Beratungsstelle nur mit einem Bruchteil der Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden, zu tun haben. Was ich sagen kann ist, dass sich das Bild der Suchterkrankungen verändert.

Inwiefern?

Suchterkrankungen gibt es schon sehr lange. Aber beispielsweise hat man erstmals in den 70er-Jahren von der großen Drogenwelle gesprochen und damals völlig außer Acht gelassen, dass viele der Stoffe im Dritten Reich gang und gäbe waren.

Zum Beispiel?

Pervitin. Dahinter verbirgt sich das, was wir heute Crystal Meth nennen. Das wurde bei der Wehrmacht in großem Umfang ausgegeben und es gab sogar Pervitin-Pralinen für die Hausfrau. Das sind Dinge, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können, das konnte man einfach so im Laden kaufen. Das heißt, Abhängigkeitserkrankungen gab es schon immer, das Erscheinungsbild verändert sich nur und das hat etwas mit gesellschaftlichen Umständen zu tun.

Welche Veränderungen gibt es noch?

Wir hatten früher in den Beratungsstellen hauptsächlich Menschen mit einer Alkoholerkrankung. Und da erkennt man in den vergangenen Jahren einen ganz deutlichen Trend: Mittlerweile ist die Zahl der Ratsuchenden wegen Drogen und Alkohol gleich hoch. Und wir haben sehr viel Mischkonsum. Das klassische Bild des Alkoholabhängigen haben wir gar nicht mehr so oft. Die Menschen haben dann meistens noch Probleme mit Cannabis oder vielleicht sogar auch Stimulanzien.

Ist das ein Problem?

Ja, denn es macht die Situation für uns deutlich schwerer einschätzbar. Und wir haben einfach viele psychische und körperliche Begleiterkrankungen.

Passen sich die Drogen der Gesellschaft an?

Ja, ganz deutlich. Wir stellen zum Beispiel fest, dass Studenten und junge Menschen Medikamente und Stimulanzien einsetzen, um sich aufzuputschen, um immer fit, immer selbstbewusst, immer agil und immer leistungsbereit zu sein. Und da passen diese Stimulanzien natürlich wunderbar in das derzeitige gesellschaftliche Anforderungsprofil.

Ist denn Crystal Meth hier im Landkreis bereits ein Thema?

Zum Glück taucht es bei uns bislang nur sehr selten auf. Es ist deutlich anders, wenn man nach Sachsen geht, in die Grenzregionen Richtung Osteuropa. Ich vermute, Sie würden andere Aussagen kriegen, wenn Sie mit der Polizei sprechen würden, in deren Alltag wird das Thema häufiger auftauchen. Aber hier in der Beratungsstelle sind es bislang nur Einzelfälle.

Was macht Crystal Meth denn eigentlich so gefährlich?

Es macht rapide abhängig und während wir bei anderen Substanzen die Betroffenen noch erreichen – zumindest auf einer bestimmten Ebene – ist es bei den Konsumenten von Crystal Meth so, dass sie wie in einer Wolke schweben und sie nicht mehr erreichbar sind. Der Körper läuft durch die Droge immer auf Hochtouren, kann sich nicht mehr regenerieren. Die Betroffenen registrieren körperlich gar nichts mehr, sie sind völlig angstfrei. Es ist natürlich sehr verführerisch, immer fit zu sein und immer topp drauf zu sein, aber es macht sehr schnell abhängig und der körperliche Verfall geht einfach sehr schnell.

Welche Substanz ist denn hier bei uns im Rems-Murr-Kreis das Problem?

Cannabis. Der Konsum ist inzwischen fast schon normal und es ist bei uns in der Suchtberatung nahezu ausgeglichen, wer in Bezug auf Alkohol kommt und wer in Bezug auf Cannabis kommt.

Was ist das Schlimme an Cannabis?

Wir registrieren in der Suchthilfe seit Jahren steigende Zahlen von Cannabis-Abhängigen, die ihren Alltag nicht mehr geregelt bekommen, denen der Antrieb fehlt, die sich aus Schule oder Ausbildung ausklinken. Und diejenigen, die sehr früh eingestiegen sind, so mit 13 oder 14 Jahren und dann regelmäßig konsumieren, denen fehlt nicht nur ein ganzes Stück normale pubertäre Entwicklung sondern viele haben wirklich auch kognitive Einschränkungen.

Aber die Legalisierung von Cannabis ist seit Jahren ein Thema...

Das Verheerende bei der Legalisierungsdebatte ist, dass das bei vielen Jugendlichen so ankam, als würde das quasi schon vor der Türe stehen. Und dass sie sich gar nicht im Klaren darüber sind, dass dabei nie daran gedacht wurde, Cannabis legal an unter 18-Jährige abzugeben. Und viele 14-Jährige, die bei uns landen oder von der Polizei erwischt wurden, sind in diesem Punkt gar nicht mehr vorsichtig, sondern sitzen im Freien auf der Parkbank, kiffen und wundern sich, dass sie in Schwierigkeiten kommen. Denn für sie ist das so normal geworden und fühlt sich so an, als sei es ist überall erhältlich. Und das Bewusstsein dafür, dass es nach wie vor etwas Illegales ist und die Vorsicht, dass Cannabis eine schädigende Wirkung hat, wenn die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, fehlen heute oft.

Ist Cannabis eine Droge, die hauptsächlich von Jüngeren konsumiert wird?

Nein, sie wird ganz breit konsumiert, egal ob mit 15, 35 oder 55 Jahren. Ich stelle gar nicht in Abrede, dass es Leute gibt, die Cannabis als Genussmittel nutzen können und nicht abhängig werden. Aber wir erleben hier viele Menschen, die in eine Abhängigkeit reingerutscht sind und ihr Leben nicht mehr im Griff haben. Und dann hat man eine andere Perspektive auf so eine Substanz.

Was ist heutzutage mit anderen Drogen? Ist etwa Heroin noch ein Thema?

Heroin war in den 80er-Jahren, als ich angefangen habe, in der Suchthilfe zu arbeiten, in aller Munde. Das war die große Heroinwelle. Heroin gibt es nach wie vor, aber Opiatabhängigkeit ist heute weitgehend substituiert. Und zum Glück gibt es im Augenblick auch bei den Jugendlichen wenig nachwachsende Heroinabhängige. Die meisten Heroinsüchtigen sind jetzt Ende 20 bis Ende 50. Das heißt aber nicht, dass wir da von einer Entwarnung sprechen können, denn in den USA kommt Heroin gerade wieder auf und neue Trends kommen von dort auch irgendwann mit ein bisschen Verzögerung zu uns.

Ist durch die Substitution das Thema Heroin weitestgehend unter Kontrolle?

Ganz und gar nicht. Denn die Substitutionsversorgung in ganz Baden-Württemberg ist prekär. Seit zehn Jahren werden die Ärzte, die substituieren, immer weniger. Das liegt daran, dass die Substitutionspraxis wenig attraktiv ist, weil es alles hochgradig reglementiert ist und viele teure Sicherheitsregeln beachtet werden müssen. Und die Ärzte müssen sich das natürlich gut überlegen, denn wenn sie ein Klientel von Abhängigen haben, machen viele die Erfahrung, dass das „normale“ Klientel in der Arztpraxis weniger wird. Und leider gehören viele Substitutionsärzte zu den älteren Jahrgängen, hören bald auf zu arbeiten. Und Nachwuchs gibt es keinen.

Welche Folgen hat das für die Menschen, die in einem Substitutionsprogramm sind?

Sie müssen etwa in Großstädte wie Stuttgart fahren. Und wenn man bedenkt, dass man sich am Anfang der Substitution das Substitut täglich abholen muss, kann man sich vorstellen, was das für eine riesige Hürde ist.

Denken Sie, dass das Thema Heroin aus dem Bewusstsein der Gesellschaft und der Politik verschwunden ist?

Das sehe ich so. Es ist im Bewusstsein der Ärzte und der Beratungsstellen. Aber ansonsten ist es ja eine Sucht, die komplett unauffällig ist. Wir hatten früher offene Heroinszenen. Jetzt haben wir die Substitution und die Menschen können gesundheitlich versorgt werden, müssen nicht mehr auf verunreinigtes Heroin von der Straße zurückgreifen. Heroin kommt nur dann zurück ins Bewusstsein, wenn man feststellt, dass es irgendwo wieder eine offene Szene gibt, wo mit dem Stoff gehandelt wird.

Ihr Eindruck: Ist es auch gesamtgesellschaftlich so, dass man sagt „Ach ja, ist ja alles nicht mehr so schlimm mit den Drogen“?

Gesellschaftlich betrachtet würde ich tatsächlich sagen, dass vor allem der Umgang mit Alkohol und Tabak aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Dabei sterben an den Folgen von Alkohol- und Tabakkonsum immer noch viel mehr Menschen als an Drogen, das muss man ganz deutlich sagen. Was nämlich in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist: Deutschland ist, bezogen auf den Alkohol, ein Hochkonsumland. Ich will damit das Drogenproblem nicht kleinreden, aber man muss es in Relation sehen. Und in Relation haben wir ein Problem mit Alkohol und Tabak. Ich werde beispielsweise immer nach dem Komatrinken der Jugendlichen gefragt – und ja, das gibt es nach wie vor, und ja, da reagieren wir auch drauf. Aber das weitaus größere Problem sehe ich in unserem unkritischen, sehr konsumfreudigen Umgang mit Alkohol im Alltag.

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Erstellt:
26. März 2019, 06:00 Uhr

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