Wirecard am Abgrund: Insolvenzantrag im Milliardenskandal

dpa München. Das Ende kommt schnell und mit Schrecken: Luftbuchungen in Milliardenhöhe haben Wirecard in die drohende Zahlungsunfähigkeit getrieben. Eine Katastrophe für die Mitarbeiter und die Aktionäre.

Die Wirecard-Firmenzentrale in Aschheim. Foto: Sven Hoppe/dpa

Die Wirecard-Firmenzentrale in Aschheim. Foto: Sven Hoppe/dpa

Der in einen Milliardenskandal verstrickte Zahlungsdienstleister Wirecard ist am Abgrund. Das Unternehmen reichte wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenzantrag ein, wie das Münchner Amtsgericht mitteilt.

Die Insolvenz kann auch Tochtergesellschaften treffen, ausgenommen bleiben soll die Wirecard Bank. Diese wird laut Wirecard mit Einverständnis der Finanzaufsicht Bafin finanziell und organisatorisch von der Muttergesellschaft abgekoppelt. Weltweit beschäftigt Wirecard etwa 5800 Menschen.

Bei Wirecard geht die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die den Jahresabschluss 2019 prüfte, von schwerer Kriminalität in quasi weltumspannendem Maßstab aus: „Es gibt deutliche Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handelt, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt waren“, erklärte EY in Stuttgart.

Vorläufiger Insolvenzverwalter bei Wirecard ist der Anwalt Michael Jaffé, der Erfahrung bei der Aufarbeitung von Luftgeschäften hat: Jaffé ist bereits Insolvenzverwalter der Kapitalanlagegesellschaft P&R, die nichtexistente Container vermietete und tausende Anleger betrog.

An der Börse kam es zu Panikverkäufen: Die Wirecard-Aktien hatten innerhalb der vergangenen sieben Tage bereits neunzig Prozent ihres Wertes verloren, nach der Insolvenzmitteilung rauschten die Papiere auf unter 4 Euro in die Tiefe. Unter den Leidtragenden, die nun auf quasi wertlosen Papieren sitzen, sind sehr viele Kleinaktionäre ebenso wie der frühere Vorstandschef Markus Braun, der im Februar noch Großaktionär und Milliardär war.

Das Unternehmen war heute bei einem Kurs von knapp 4 Euro pro Aktie weniger als eine halbe Milliarde wert. Wirecard hat nun keine Chance mehr, bei der turnusmäßigen nächsten Einstufung des Leitindex am 3. September noch zu den 30 Börsenschwergewichten zu gehören.

Der Fall Wirecard ist nun auch zum Politikum geworden: Die Finanzaufsicht Bafin hätte frühzeitig eingreifen können, kritisierte Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter. „Olaf Scholz und Peter Altmaier als die zuständigen Minister stehen hier in einer besonderen Verantwortung. Sie müssen das Fehlverhalten ihrer Behörden erklären.“

Finanzminister Scholz stellte eine härtere Regulierung in Aussicht. „Ein solcher Skandal wie bei Wirecard muss ein Weckruf sein, dass wir mehr Aufsicht über und Kontrolle für die Finanzmärkte brauchen als wir sie heute haben“, sagte er in Berlin. Der Staat müsse in der Lage sein, „komplizierte internationale Firmenkonstrukte wie Wirecard“ effizienter und wirksamer zu kontrollieren. Er habe sein Ministerium beauftragt, ihm in den nächsten Tagen ein Konzept dafür vorzulegen.

Die Zukunft von Wirecard ist ungewiss. Für den vorläufigen Insolvenzverwalter Jaffé wird eine entscheidende Frage sein, ob das Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb fortsetzen kann oder nicht.

Laut Wirecard laufen Mitte nächster Woche insgesamt 1,3 Milliarden Euro an Krediten aus: „Ohne eine Einigung mit den Kreditgebern bestand die Wahrscheinlichkeit der Kündigung und des Auslaufens von Krediten mit einem Volumen von 800 Millionen Euro zum 30. Juni 2020 und 500 Millionen Euro zum 1. Juli 2020.“ Die Fortführbarkeit des Unternehmens sei „nicht sichergestellt“. Nach Informationen der Nachrichtenagenturen dpa und Bloomberg hatten die Banken Wirecard gerade erst einige Tage Aufschub gewährt, um die langfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu prüfen.

Damit ist ein vor einer Woche noch als solvent und zukunftsträchtig geltender Dax-Konzern in atemberaubender Geschwindigkeit abgestürzt. Die Anlegervereinigung DSW fordert rückhaltlose Aufklärung. „Das ist eine Katastrophe“, sagte Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler auf Anfrage. „Bei Wirecard hat das System versagt“ - das bezieht sich auf Vorstand und Aufsichtsrat ebenso wie auf die Bilanzprüfer von EY, die die Jahresabschlüsse testierten, und die behördliche Aufsicht durch die Bafin.

Die Wirtschaftsprüfer bei EY setzen sich zur Wehr: „Konspirativer Betrug, der darauf abzielt, die Investoren und die Öffentlichkeit zu täuschen, geht oft mit umfangreichen Anstrengungen einher, systematisch und in großem Stil Unterlagen zu fälschen.“ Auch mit umfangreich erweiterten Prüfungshandlungen sei es unter Umständen nicht möglich, diese Art von konspirativem Betrug aufzudecken.

„Dieser Fall muss komplett aufgeklärt werden, damit wir daraus lernen können“, sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Tüngler. „Das darf nicht wieder so laufen wie bei Volkswagen, dass sich das jahrelang hinzieht und dann mit einer Geldbuße endet.“

Im Mittelpunkt des Skandals stehen mutmaßliche Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro. Unmittelbarer Auslöser der Krise war das Eingeständnis finanzieller Unregelmäßigkeiten am Donnerstag vergangener Woche.

Am Freitag war Vorstandschef Braun zurückgetreten, am Montag räumte Wirecard dann die Luftbuchungen ein - die 1,9 Milliarden, die angeblich auf philippinischen Treuhandkonten lagern sollten, existieren mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ nicht, wie der Vorstand formulierte. Braun kam für eine Nacht in Untersuchungshaft, wurde am Dienstag aber gegen Kaution von fünf Millionen Euro wieder auf freien Fuß gesetzt.

Wirecard wickelt als Zahlungsdienstleister die bargeldlosen Geldflüsse zwischen Händlern auf der einen und Banken sowie Kreditkartenfirmen auf der anderen Seite ab. Die Aufklärung wird allein deshalb schwierig, weil sich ein wesentlicher Teil der Affäre in Südostasien abspielte: Zwei zentrale Figuren sind der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 in Singapur für Wirecard aktiv war. Der Unternehmen betreute das - wie sich nun herausgestellt hat - in großen Teilen wahrscheinlich gar nicht existente Geschäft mit Drittfirmen, die angeblich für Wirecard Zahlungen im Mittleren Osten und in Asien abwickelten.

Ins Rollen gebracht hatte die Affäre die britische „Financial Times“, die Anfang 2019 über mutmaßliche Manipulationen in Singapur berichtete. Da es anschließend zu außergewöhnlichen Kursstürzen der Wirecard-Aktie an der Frankfurter Börse gekommen war, hatten die Finanzaufsicht Bafin und die Münchner Staatsanwaltschaft zuerst Untersuchungen eingeleitet, ob illegale Manöver von Börsenspekulanten dahinter steckten.

Nun herrscht erst einmal Fassungslosigkeit: „Das ist von der Dimension her sehr schwer zu greifen“, sagte DSW-Hauptgeschäftsführer Tüngler.

© dpa-infocom, dpa:200625-99-558584/13

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Erstellt:
25. Juni 2020, 10:39 Uhr

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