Wo anders sein ganz normal ist

Wenn Menschen mit und ohne Demenz in einem Pflegeheim zusammenleben, führt das häufig zu Konflikten. Die Staigacker-Stiftung hat deshalb vor zwei Jahren in Backnang ein eigenes Haus für Demenzpatienten eröffnet. Die Erfahrungen sind sehr positiv.

Wenn Markus Weiser das Essen vorbereitet, sind die Bewohner im Aufenthaltsbereich in Sichtweite. Die offene Küche gibt ihnen die Möglichkeit, beim Kochen zuzuschauen und vielleicht sogar mitzuhelfen.Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Wenn Markus Weiser das Essen vorbereitet, sind die Bewohner im Aufenthaltsbereich in Sichtweite. Die offene Küche gibt ihnen die Möglichkeit, beim Kochen zuzuschauen und vielleicht sogar mitzuhelfen.Foto: J. Fiedler

Von Kornelius Fritz

Backnang. An der Tür zum Flur hängt die Hausunordnung. Ja, Sie haben richtig gelesen: Im Apartmenthaus Dietrich Bonhoeffer ist Unordnung so normal, dass sie sogar schriftlich geregelt ist. „Unsere Vorstellung von Ordnung entspricht nicht der von Euch, aber schließlich ist es unser Zuhause“, steht da zum Beispiel. Oder auch: „Uns ist egal, aus welcher Tasse wir trinken und von welchem Teller wir essen. Hauptsache, wir werden satt.“ Aufgehängt hat die Hausleitung diese „Regeln“ nicht für die Bewohner, sondern für deren Angehörige. Denn die tun sich oft schwer damit zu akzeptieren, dass die Uhren in diesem Haus etwas anders ticken. „Wie lasst ihr denn meine Mutter rumlaufen?“, beschwert sich mancher, wenn diese mittags noch ihren Schlafanzug trägt oder einen großen Fleck auf ihrem Pullover hat. „Sieht das denn keiner?“

„Doch“, sagt Anna Zielonka von der Pflegedienstleitung, „wir sehen das, aber wir zwingen niemanden zu etwas.“ Natürlich werden auch die Bewohner im Demenzhaus täglich gewaschen und angezogen, aber wenn einer das morgens partout nicht wolle, „dann versuchen wir unser Glück eben später noch mal“, sagt die Pflegerin. Menschen mit Demenz leben nun mal in ihrer eigenen Welt – hier wird die nicht ständig infrage gestellt, sondern akzeptiert. Und wenn sich mal einer in der Zimmertür geirrt hat und versehentlich im falschen Bett schläft, ist das auch okay. „Solange es keinen stört, greifen wir nicht ein“, erklärt Zielonka.

In einem normalen Alten- und Pflegeheim wäre das undenkbar. Das Verhalten der dementen Bewohner sorgt dort immer wieder für Konflikte mit denjenigen, die geistig noch fit sind. „Manche Verhaltensweisen sind für andere schon sehr störend“, weiß Sabine Laible, stellvertretende Geschäftsführerin der Staigacker-Stiftung, und berichtet von Patienten, die nachts laut rufen oder mit den Fäusten gegen die Wände schlagen. Bei der Stiftung, die vier weitere Pflegeheime betreibt, reifte deshalb die Idee, ein eigenes Haus speziell für Demenzkranke zu bauen – vor genau zwei Jahren ging es auf dem ehemaligen Krankenhausareal in Backnang in Betrieb.

30 Plätze für Menschen mit Demenz stehen dort zur Verfügung und das neue Angebot kommt gut an. „Wir könnten noch mehr Plätze belegen“, sagt Laible. Die leichteren Fälle sind im ersten Obergeschoss untergebracht, ein Stockwerk darüber sind die Ausgangstüren mit einem Zahlencode gesichert. Dort leben Patienten mit „Hin- und Weglauftendenz“, wie es im Fachjargon heißt. In diesem geschützten Bereich dürfen Menschen nur mit einer richterlichen Anordnung untergebracht werden, die mindestens alle zwei Jahre überprüft wird.

Das Personal hat zum Teil schon auf der früheren Demenzstation im Alten- und Pflegeheim Staigacker gearbeitet. Einige haben Zusatzqualifikationen im Bereich Demenz, was alle brauchen, ist eine Menge Geduld und eine große Portion Gelassenheit: „Man darf nicht davon ausgehen, dass man alles umsetzen kann, was man sich vorgenommen hat“, sagt Anna Zielonka.

Für Sabine Laible ist das neue Haus ein großer Gewinn, vor allem für die Bewohner: „Hier können sie so sein, wie sie sind, ohne dass sie ständig jemand anmeckert.“ Schon bei der Planung des Neubaus wurden die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz berücksichtigt, zum Beispiel der für die Krankheit typische Bewegungsdrang. So führt der Gang, an dem die Zimmer liegen einmal um das ganze Stockwerk herum: So können die Bewohner in einer Endlosschleife durch das Haus marschieren, ohne dass sie plötzlich vor einer Wand stehen.

In der Mitte des Stockwerks befinden sich die Räume für das Pflegepersonal und eine offene Küche. Wenn dort gekocht wird, bekommen die Senioren das im angrenzenden Aufenthaltsbereich mit, können zuschauen, an den Töpfen riechen, vielleicht sogar mal beim Kartoffelschälen helfen. „Das weckt Erinnerungen an früher“, erklärt Anna Zielonka.

Die an Demenz erkrankten Menschen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fördern und zu beschäftigen – das ist auch das Ziel des dreiköpfigen Betreuungsteams, das jeden Tag in das Apartmenthaus Bonhoeffer kommt. Es wird gemeinsam gesungen und erzählt, auch kleine Handarbeiten stehen auf dem Programm. Und dann ist da ja noch der schöne Dachgarten, der vor zwei Jahren auch mit Geldern aus der Spendenaktion „BKZ-Leser helfen“ eingerichtet wurde. Hier können die Bewohner nicht nur bei schönem Wetter die Sonne genießen, sondern auch selbst ab und zu beim Gärtnern mit anpacken.

Sabine Laible zieht zwei Jahre nach der Eröffnung ein positives Fazit: Das Leben im Haus Bonhoeffer habe sich eingespielt und sei sehr harmonisch: „Ich habe hier noch nie einen Streit beobachtet.“ Weil anders sein ganz normal ist, stört sich hier niemand an ungewöhnlichem Verhalten. Und auch die Nachbarn haben sich mittlerweile daran gewöhnt. Am Anfang habe einer mal die Polizei gerufen, erinnert sich Sabine Laible und schmunzelt. Er hatte einen Bewohner beobachtet, der auf dem Balkon stand und laut um Hilfe rief.

Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Foto: A. Becher

Der 21. September ist Weltalzheimertag

Statistik In Deutschland leben nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Aufgrund der wachsenden Zahl an älteren Menschen wird bis zum Jahr 2050 ein Anstieg auf bis zu 2,8 Millionen Betroffene erwartet.

Krankheit Eiweißablagerungen im Gehirn führen dazu, dass Nervenzellen absterben. Die Betroffenen werden dadurch zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos. Die Ursachen sind noch nicht restlos geklärt. Alzheimer ist nicht heilbar, der Verlauf kann aber durch Medikamente verlangsamt werden.

Aktionstag Unter dem Motto „Demenz – genau hinsehen!“, findet am 21. September der Welt-Alzheimertag statt. In der „Woche der Demenz“ werden vom 20. bis zum 26. September bundesweit Aktionen organisiert, um auf die Situation von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen aufmerksam zu machen.

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Erstellt:
21. September 2021, 06:00 Uhr

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