X-mal gesehen, nie richtig angeschaut

Der Architektur- und Industriefotograf Bernhard Lattner hat die Backnanger Backsteingebäude ins Visier genommen. Der Lichtbildner will mehr als nur die Realität abbilden, er interpretiert seine Objekte auch. Im Herbst erscheint ein Backnang-Backstein-Bilderbuch.

Bernhard Lattner ist seit einigen Tagen wieder mit seiner 30 Kilogramm schweren Ausrüstung im Stadtgebiet unterwegs, immer auf der Suche nach den optimalen Verhältnissen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Bernhard Lattner ist seit einigen Tagen wieder mit seiner 30 Kilogramm schweren Ausrüstung im Stadtgebiet unterwegs, immer auf der Suche nach den optimalen Verhältnissen. Foto: A. Becher

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Fotografieren geht immer, auch bei Abstandsgebot, denn es ist ohnehin ein einsames Geschäft. Zumindest dann, wenn man, wie Bernhard Lattner es tut, nicht Menschen, sondern Dinge fotografiert, denn er ist Architektur- und Industriefotograf. Im vergangenen Jahr waren es hyperrealistische Fotos von Exponaten des Technikforums, die er machte. Die Vernissage zur Ausstellung hat noch stattgefunden, die Vorstellung des dazugehörigen Buchs ist im Coronaschock dann (fast) untergegangen. Doch jetzt ist er unverdrossen wieder im Städtchen unterwegs mit seinem Lastenfahrrad, in dem er die 30 Kilogramm Ausrüstung rund um seine Fachkamera an Ort und Stelle transportiert.

Dieses Mal fotografiert er Gebäude, genau genommen Backsteingebäude in Backnang und den Teilorten. „Man denkt immer an Fachwerk, wenn man an Backnang denkt“, erklärt Stefan Setzer, der Baudezernent der Stadt, der „seine“ Stadt natürlich kennt wie seine Westentasche, „schließlich liegt es an der Fachwerkstraße“. Das Rathaus fällt einem ein, überhaupt das ganze Ensemble in der Markt- und Schillerstraße. Aber Backnang hat auch sehr markante Backsteinfassaden zu bieten, und zwar aus allen Epochen seit dem großen Stadtbrand.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat Christian Hämmerle den architektonisch anspruchsvollen Backsteinbau in Backnang wieder populär gemacht und viele sind seinem Beispiel gefolgt – in jüngster Zeit zum Beispiel das Café zwischen Murrtreppe und Schweizerbau oder das Windmüller-Cityparkhaus. Stimmt genau. Die Alte Spinnerei fällt einem ein, wo heute (unter anderem) das Finanzamt ist, die Johanneskirche, die Hämmerle-Häuser in der Gartenstraße, das Eckhaus am Kreisel zwischen Schöntaler und Aspacher Straße, die Buchhandlung Leiboldt und, und, und – es will kein Ende mehr nehmen mit den Backsteinbauten.

Lattner geht an einem sonnigen Nachmittag auf dem Parkplatz hinter dem Finanzamt seiner Arbeit nach. Er hat Stativ und Kamera vor dem früheren Kraftwerk der Alten Spinnerei aufgebaut. X-mal gesehen, nie richtig angeschaut, ein wirklich schönes Gebäude. Es ist kein Zufall, wann er wo auftaucht, um zu fotografieren, das Gebäude muss gut im Licht stehen, um sich in seiner ganzen Besonderheit zu zeigen. Lattner ermittelt den idealen Zeitpunkt mit einer App, die den genauen Sonnenstand in der Region zu jedem Zeitpunkt des Tages errechnet (seinem Sonnenstandsberechnungswerkzeug – welch ein Wort!), in Kombination mit einem „gewöhnlichen“ Kompass. „Ich will ja nicht nur die Realität abbilden mit meinen Fotos“, erklärt der Lichtbildner, wie er sich selbst nennt, „das auch, aber nicht nur. Ich interpretiere Objekte.“

Er zeigt Beispiele, spricht von stürzenden Linien, dem Helligkeitsabfall im Weitwinkelobjektiv, dem Leuchten von Osten oder Westen her, wenn er ein Gebäude aus dem Norden fotografiert, er spricht von dem, was im Kopf passiert, wenn wir sehen, immer wieder vom Licht und von seiner kostbaren Ausrüstung: „Technik ist wichtig.“ Einerseits. Andererseits ist die beste Technik alleine nicht genug. „Der Winkel macht’s.“ Es ist der Winkel, in dem der Fotograf zum Gebäude steht und die Sonne zu beiden, es ist der Moment und wieder das Licht und es ist die Oberfläche und zugleich die Durchdringung der Oberfläche. Lichtbildner, wie gesagt, nennt er sich. Licht-bildner, genau das ist es wohl.

Bis zum Herbst will er ein Buch aus seinen Aufnahmen machen, ein Backnanger-Backstein-Bilderbuch. Stefan Setzer, der Backnang-Kenner kraft Amtes, wird den Text dazu schreiben. Und jetzt muss Lattner weiter, die Sonne ist gewandert während unseres Gesprächs. Liebevoll packt er seine Ausrüstung zurück ins Lastenfahrrad, jedes Ding hat seinen Platz, nur so geht’s. Wenn Sie ihn irgendwo sehen und ansprechen, wird er Ihnen vom Licht erzählen, vom Detail und vom Ganzen, vom Winkel und von der Perspektive, von Linien und Flächen und immer noch mal vom Licht...

Damit ein Foto richtig gelingt, kommt es auf viele Faktoren an: Standort, Winkel zum Gebäude und vor allen Dingen das Licht. Wenn alles stimmt, kann auch ein Industriegebäude wie die Alte Spinnerei, in der heute unter anderem das Finanzamt untergebracht ist, wunderschön aussehen. Foto: B. Lattner

Damit ein Foto richtig gelingt, kommt es auf viele Faktoren an: Standort, Winkel zum Gebäude und vor allen Dingen das Licht. Wenn alles stimmt, kann auch ein Industriegebäude wie die Alte Spinnerei, in der heute unter anderem das Finanzamt untergebracht ist, wunderschön aussehen. Foto: B. Lattner

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Erstellt:
17. Juni 2020, 06:00 Uhr

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