Zwei Flugzeuge schützen die Ernte

Bei der Hagelabwehr war der Rems-Murr-Kreis Vorreiter im Land: Schon seit mehr als 40 Jahren starten hier Flugzeuge, um Gewitterwolken mit Silberiodid zu impfen. An den Kosten beteiligen sich mehr als 100 Partner, die Finanzierung ist nun bis 2026 gesichert.

Frank Kaspareks Firma FK Aviation betreibt einen der beiden Hagelflieger am Stuttgarter Flughafen. Die silberne Kartusche am Flügel ist mit Silberiodidlösung gefüllt.Foto: Benjamin Büttner

Frank Kaspareks Firma FK Aviation betreibt einen der beiden Hagelflieger am Stuttgarter Flughafen. Die silberne Kartusche am Flügel ist mit Silberiodidlösung gefüllt.Foto: Benjamin Büttner

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Als sich am vergangenen Donnerstag ein Gewitter über dem Rems-Murr-Kreis zusammenbraute, saßen am Stuttgarter Flughafen schon zwei Piloten startklar in ihren Maschinen. Nach einem Telefonat mit einem Meteorologen aus Karlsruhe blieben sie allerdings am Boden: Die dunklen Wolken brachten nur Regen, aber keinen Hagel. An etwa 10 bis 15 Tagen im Jahr gehen die beiden Maschinen allerdings in die Luft, und das schon seit 1980. Die zweimotorigen Propellermaschinen sind an den Flügeln jeweils mit silbernen Kartuschen ausgestattet, in denen sich eine Lösung aus Silberiodid und Aceton befindet. Sobald sie sich unterhalb einer Gewitterwolke befinden, wird dieses Gemisch verbrannt und die Silberpartikel werden vom Aufwind in die Wolken getragen.

„Sie wirken dort als künstliche Eiskeime“, erklärt Frank Kasparek von der Firma FK Aviation. Hagelkörner entstehen nämlich, wenn sich Wasser an feste Partikel heftet und gefriert. Durch die „Impfung“ mit Silberiodid wird die Zahl dieser Kristallisationskerne erhöht. Dadurch bilden sich mehr Hagelkörner, die dafür weniger groß sind.

Wie wirksam diese Methode ist, bleibt umstritten. Wetterexperte Jörg Kachelmann bezeichnet sie gar als „Betrug“ und „Hokuspokus“. Doch im Waiblinger Landratsamt glaubt man an die Wirksamkeit: „Wir sind davon überzeugt, dass unsere Hagelabwehr funktioniert“, sagte Landrat Richard Sigel gestern bei einem Pressetermin am Stuttgarter Flughafen. Als Landkreis, in dem Obst- und Weinbau eine wichtige Rolle spiele, sehe man sich in der Pflicht, die Landwirte vor Schäden zu schützen.

Was ein Hagelsturm anrichten kann, hat man etwa im Juli 2013 gesehen, als ein Unwetter vor allem im Landkreis Reutlingen wütete und in nur zehn Minuten einen Gesamtschaden von mehr als drei Milliarden Euro verursachte. Einen Hagelflieger gab es in der betroffenen Region damals noch nicht.

Der Rems-Murr-Kreis ist in der Region Stuttgart nicht nur federführend bei der Organisation der Hagelabwehr, sondern mit einem jährlichen Beitrag von 50000 Euro auch der größte Zahler. Insgesamt beteiligen sich aber mehr als 100 Partner an der Finanzierung der beiden Hagelflieger (siehe Infobox).

Genügend Geldgeber zu finden, sei nicht immer ganz einfach, berichtet Michael Stuber, der das Landwirtschaftsamt beim Rems-Murr-Kreis leitet. Doch bis einschließlich 2026 ist die Finanzierung nun gesichert. Neben Landkreisen und Kommunen beteiligen sich auch große Firmen wie Mercedes-Benz, Kärcher oder Harro Höfliger an den Kosten, Weingüter und Weingärtnergenossenschaften bezahlen einen Beitrag von 30 Euro pro Hektar Rebfläche.

Betrieben werden die Hagelflieger von zwei privaten Unternehmen. Die Firmen FK Aviation und Jumara Air Service decken in der Zeit von Ende April bis Mitte Oktober an sieben Tagen pro Woche die Bereitschaft ab. Dabei stehen sie im engen Kontakt mit den Wetterexperten der Firma Radar Info in Karlsruhe. Schon morgens informieren diese die Flugunternehmen über drohende Gewitter. Halten die Wetterexperten ein Unwetter für möglich, informieren die beiden Firmen ihre Piloten, die dann am Flughafen bereitstehen. Die Entscheidung, ob sie tatsächlich starten und welche Gebiete sie befliegen, wird dann kurzfristig anhand von Radarbildern der Universität Karlsruhe getroffen. Wichtig sei dabei, dass man rechtzeitig starte, erklärt Frank Kasparek, denn wenn sich die Hagelkörner bereits gebildet haben, hilft auch keine Impfung mehr.

Insgesamt acht Piloten haben die beiden Firmen im Einsatz. „Dabei handelt es sich ausschließlich um Berufspiloten mit der entsprechenden Ausbildung“, betont Kasparek. Denn auch wenn die Hagelflieger nicht direkt in ein Gewitter hineinfliegen, können die Flüge durchaus turbulent werden. Landrat Sigel ist deshalb „sehr froh, dass ich da nicht selbst drinsitzen muss“, wie er gestern gestand.

Wie oft die Hagelflieger in diesem Sommer abheben werden, weiß heute noch niemand, aber die Prognosen der Wetterexperten lassen erwarten, dass schwere Unwetter infolge des Klimawandels weiter zunehmen werden. Im Rems-Murr-Kreis ist man den Naturgewalten dann auch weiterhin nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert.

Zwei Flugzeuge schützen die Ernte

© KD BUSCH.COM

Neun Flugzeuge sind landesweit im Einsatz

Statistik In den vergangenen fünf Jahren waren die Piloten der beiden Hagelflieger an 143 Tagen in Bereitschaft, tatsächlich gestartet sind sie an 61 Tagen zu insgesamt 141 Flügen. Die meisten Einsätze gab es 2018 mit 35 Flügen, die wenigsten 2020. Damals starteten die Flieger nur 16-mal.

Finanzierung Die Kosten von rund 340000 Euro pro Jahr teilen sich aktuell 113 Partner. Neben den Landkreisen Rems-Murr, Esslingen, Ludwigsburg, Heilbronn und der Stadt Stuttgart beteiligen sich unter anderem mehr als 70 Weingüter sowie sieben Unternehmen aus der Region.

Weitere Hagelflieger Neben der vom Rems-Murr-Kreis organisierten Hagelabwehr betreibt seit 2014 auch die Württembergische Gemeindeversicherung (WGV) zwei Hagelflieger. Ein Verein finanziert einen weiteren im Landkreis Reutlingen. Im badischen Landesteil sind vier Flugzeuge im Einsatz.

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Erstellt:
18. Mai 2022, 06:00 Uhr

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