Zwischen Hoffen und Bangen

Die Familie von Olga Arlt befindet sich auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine. Ihr Alltag ist geprägt von der Furcht um ihre Liebsten. Am Wochenende will die Backnangerin gemeinsam mit ihrem Mann zur Grenze fahren, um die ersten fünf Familienmitglieder abzuholen.

Die Sorge um ihre Familie bestimmt in diesen Zeiten den Alltag Olga Arlts .Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Die Sorge um ihre Familie bestimmt in diesen Zeiten den Alltag Olga Arlts .Foto: A. Becher

Von Lorena Greppo

Backnang. Den Anruf wird Olga Arlt so schnell nicht vergessen. Am frühen Morgen dieses Februartags, noch bevor die Backnangerin ihrer Tochter das Frühstück gerichtet hat, klingelt das Telefon: „Es fliegen Bomben, der Krieg hat angefangen“, sagt ihre Schwester in der Ukraine und legt wieder auf. „Es war ein Schock“, beschreibt Arlt. Natürlich sei die Lage schon zuvor unruhig gewesen, man habe gewusst, dass sich etwas zusammenbraut. Und dennoch haben bis zum Schluss alle gehofft, dass es doch nicht so weit kommen werde.

Seitdem ist Olga Arlt in ständiger Sorge um ihre Familie. Ihre Mutter sowie zwei ihrer Schwestern mit deren Familien leben in Kramatorsk, eine weitere Schwester in Sjewjerodonezk, beide Städte liegen im Osten der Ukraine und stehen unter Beschuss. Die Schwester habe mehrere Tage in einem Schutzbunker Zuflucht gefunden, bevor sie und ihr Mann beschlossen, dass die Situation zu brenzlig ist. Weil wehrfähige Männer das Land nicht verlassen dürfen, machte sich die Schwester mit dem zwei Monate alten Sohn sowie drei Nichten im Alter von 18 und 19 Jahren auf den Weg Richtung Deutschland. Weil die Reise mit Baby nicht so leicht ist und es zudem eine nächtliche Ausgangssperre gibt, müssen die fünf regelmäßig haltmachen. „Ich versuche, täglich anzurufen“, sagt Olga Arlt. Nicht nur, um sich nach dem Fortschritt der Ausreise zu erkundigen, sondern auch nach den Familienmitgliedern, die derzeit noch in der Ukraine verweilen. Welche Auswirkungen die ständige Sorge auf den Alltag der Backnangerin hat, kann man sich ausmalen. „Ich kann nicht schlafen“, berichtet sie. Zum Essen müsse sie sich mehr aus logischen Gründen bringen, weniger weil sie Hunger verspürt. Zudem weine sie viel. „Hoffen und bangen“ präge sie derzeit.

Viele Menschen bieten Hilfe an

Auch bei der Reaktion anderer auf den Krieg sieht Olga Arlt Licht und Schatten. Weil immer mehr Menschen in den Westen fliehen, werden dort Waren knapp. Das locke viele an, die durch Verkäufe zu horrenden Preisen Geld verdienen. „Es macht mich traurig zu sehen, dass manche Menschen die Situation ausnutzen, um Profit daraus zu schlagen.“ Zugleich sieht sie aber auch die überwältigende Hilfsbereitschaft im eigenen Umfeld wie auch in der Breite der Gesellschaft. Arlt selbst ist im Gesundheitswesen beschäftigt und wird von ihren Kollegen sehr unterstützt, wie sie sagt. „Wir haben von Familie und Freunden große Anteilnahme erfahren“, sagt sie. „Viele Menschen haben uns Hilfe angeboten.“ Als klar wurde, dass ein Teil der Familie nach Backnang kommt, habe der Vermieter ihrer Wohnung sofort sein Einverständnis gegeben, dass sie dort unterkommen.

An diesem Wochenende, so der Plan, wollen sich Olga Arlt und ihr Mann mit einem Siebensitzer aufmachen und die fünf flüchtenden Familienmitglieder abholen. Dass in der 130 Quadratmeter großen Wohnung der Arlts auf Dauer keine acht Personen leben können, ist klar. Zumal ihr Mann im Homeoffice arbeitet, erklärt Olga Arlt. „Wir werden eine Alternative finden müssen. Aber erst einmal sollen sie ankommen und runterkommen“, sagt sie. Sie und ihr Mann werden dann auf der Couch schlafen, für die Schwester und deren Baby wurde das Büro geräumt, die drei Teenager bekommen das Schlafzimmer des Paars. Dann müsse man sich erst einmal um grundlegende Bedürfnisse kümmern. Ihr zwei Monate alter Neffe habe seit zwei Wochen nicht zum Arzt können, berichtet Olga Arlt. Dabei sei dies dringend nötig. „Er schreit die ganze Zeit, es geht ihm nicht gut.“ Auch müsse sie noch Kleidung und Utensilien wie einen Kinderwagen besorgen. „Die kommen nur mit Rucksäcken und kleinen Koffern hierher, mehr ging nicht.“

Plötzlich statt für drei für acht Personen zu sorgen werde zudem anstrengend – nicht zuletzt finanziell. Momentan arbeitet Olga Arlt in einer 70-Prozent-Stelle, überlegt aber schon, ob sie womöglich noch einen Nebenjob antritt. Noch habe sie sich auch gar nicht schlaumachen können, welche Anlaufstellen es für Unterstützung in Stadt und Landkreis gibt. Sie selbst werde für ihre Verwandten als Vermittlung agieren. „Es ist schwierig, sich in einem fremden Land zurechtzufinden“, weiß sie. Deswegen möchte sie, sofern es ihr zeitlich möglich ist, auch für andere Flüchtlinge übersetzen und mit Anträgen und Unterlagen helfen – obwohl sie angibt, seit etwa 20 Jahren kein Ukrainisch mehr gesprochen zu haben. „Die Donbas-Region ist eher russischsprachig“, erklärt sie.

Die Zerrissenheit wird bleiben

Olga Arlt selbst ist 2003 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Zuerst hat sie als Au-pair gearbeitet, dann hat sie ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Dort habe sie ihren heutigen Mann kennengelernt, erzählt sie. Schon in der Ukraine habe sie eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert gehabt, weil es aber mit der Anerkennung schwierig war und sie auch erst noch ihre Deutschkenntnisse verbessern wollte, hat sie auch in Backnang eine entsprechende Ausbildung durchlaufen. Seit 2014 hat sie die deutsche Staatsbürgerschaft, sagt aber über ihr Zugehörigkeitsgefühl: „Meine Heimat ist dort und hier gleichermaßen.“ Und bald kommen beide Kulturen wohl noch viel näher zusammen. Sie erhoffe sich von den Menschen in Deutschland Offenheit für die Ukrainer, die nun hier Schutz suchen, sagt Olga Arlt.

Wie es in den kommenden Wochen und Monaten in der Ukraine weitergeht, kann sie noch gar nicht einschätzen. Wie alle hofft auch sie auf ein baldiges Ende des Kriegs. Ihre Familie wolle auch auf jeden Fall dorthin zurückkehren, sagt sie. „Der Aufbau wird sehr viel Zeit brauchen.“ Ihr mache es aber Mut zu sehen, wie ganz normale Bürger auf die Straße gehen und Russland die Stirn bieten. Wer so einen Einsatz für seine Heimat zeigt, werde auch mit den vielen Aufgaben nach dem Krieg fertig. Allerdings, macht die Backnangerin klar, müsse auch in der Ukraine ein Umdenken stattfinden – vor allem wenn man sich in Richtung EU orientieren möchte. Von deren Werten und Standards trenne die Ukraine noch ein ganzes Stück.

Noch ist das aber alles Zukunftsmusik und Gedankenspiel, denn die Kämpfe dauern an. Insofern gilt Olga Arlts unmittelbare Sorge jenen Familienmitgliedern, die noch in der Ukraine verweilen. Wenn sie von dort hört, dass in der Heimat quasi durchgängig der Luftalarm schrillt, weiß sie: „Die Angst und Zerrissenheit wird bleiben.“ Zumal die Lage immer noch brenzliger wird. Dankbar ist Olga Arlt aber dafür, dass viele Länder der Ukraine helfen. Das gebe auch ihr Hoffnung, dass Frieden gelingen kann.

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Erstellt:
11. März 2022, 11:30 Uhr

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