„Die Leichtathletik lebt von Typen“

Das Interview: Ex-Zehnkämpfer Jürgen Hingsen über seine Karriere und seine Vortragsreihe, die ihn nach Unterweissach führt

Er ist eine Zehnkampflegende, eroberte Olympia-Silber, stellte drei Weltrekorde auf und hält bis heute den deutschen Rekord. Seine Duelle mit Daley Thompson hielten die Leichtathletik-Welt in Atem, seine schwärzeste Stunde erlebte Jürgen Hingsen mit drei Fehlstarts und der Disqualifikation in Seoul 1988. Über Erfolge und Enttäuschungen, den Umgang mit seinen Rückenproblemen und den Vortrag, den er am Freitag in Unterweissach hält, spricht der 60-Jährige im Interview.

Ein Modellathlet, der in den Achtzigern drei Zehnkampfweltrekorde aufstellte und Olympia-Silber holte: Jürgen Hingsen. Foto: Imago

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Ein Modellathlet, der in den Achtzigern drei Zehnkampfweltrekorde aufstellte und Olympia-Silber holte: Jürgen Hingsen. Foto: Imago

Von Steffen Grün

Sind Sie schon wieder zurück von Ihrer Radtour von Köln an den Bodensee?

(Lacht.) Nein, das haben wir bislang nicht geschafft. Sie meinen mit Daley, oder?

Genau. Sie erzählten im Januar 2018 zu Ihrem 60. Geburtstag, dass Daley Thompson angekündigt hat, zu seinem 60. Ende Juli mit Ihnen diese Tour machen zu wollen.

Uns ist die Europameisterschaft in Berlin dazwischengekommen, da war Daley als Experte eingespannt. Wir müssen das irgendwann nachholen, wir werden sicherlich mal Zeit und Muße dafür finden.

Sind aus den einstigen Dauerrivalen im Zehnkampf also beste Freunde geworden?

Ziemlich beste Freunde (lacht).

Empfinden Sie es als Makel, bei Großereignissen stets Zweiter hinter Daley Thompson geworden zu sein, oder ist das abgehakt?

In Deutschland gab es damals die außergewöhnliche Situation, dass wir drei, vier, fünf starke Zehnkämpfer hatten und nur drei starten konnten. Wir hatten deshalb also eine Qualifikation zu überstehen und mussten bereits eine Topleistung zeigen, um uns einen Platz zu erkämpfen. Ich habe da schon immer einen Weltrekord aufgestellt und dann ist es natürlich schwierig, diese Leistung über viele weitere Wochen zu halten. Da hatte es Daley leichter. Er war bei den Briten ja automatisch gesetzt und konnte sich entspannt auf den eigentlichen Höhepunkt vorbereiten.

Sie holten Olympia-Silber und WM-Silber, verbesserten dreimal den Weltrekord – trotzdem werden Sie oft vor allem an die drei Fehlstarts über 100 Meter und die Disqualifikation in der ersten Disziplin bei den Olympischen Spielen 1988 erinnert. Ärgert Sie das?

Das war meiner Knieverletzung geschuldet. Ich hatte immer wieder Probleme mit der Patellasehne und habe vor den Spielen Spritzen bekommen, beim 100-Meter- Lauf hatte ich aber trotzdem schon in der Fertigposition im Startblock Schmerzen. Dann ist es passiert, und weil es so spektakulär war, reden heute noch viele darüber – oftmals ohne zu wissen, dass da im Vorfeld eine schwere Verletzung war. Ich wollte versuchen, mit einem guten Start und nur einem Hochsprung, bei dem ich mit der Bestleistung von 2,18 Metern eigentlich extrem gut war, jedoch bei jedem Sprung Schmerzen hatte, trotzdem Olympiasieger zu werden. Es waren ja fast alle Favoriten angeschlagen, alleine Christian Schenk war in Topform und hat deshalb auch Gold geholt. Zur großen Erfahrung gehört auch immer eine große Niederlage, damit muss man umgehen. Für mich war es sehr schwierig, weil ich immer erfolgsverwöhnt war. Die drei Fehlstarts waren ein gefundenes Fressen für alle, mich da medial ein bisschen niederzumachen.

Den deutschen Rekord halten Sie mit 8832 Punkten immer noch. Trauen Sie es Arthur Abele, Mathias Brugger, Niklas Kaul, Kai Kazmirek oder Rico Freimuth zu, ihn zu knacken?

Derzeit nicht, aber ich würde mich sehr freuen, wenn es jemand schaffen würde. Einer, der sich dahin entwickeln könnte, ist Niklas Kaul, der den Junioren-Weltrekord aufgestellt hat und in den technischen Disziplinen hervorragend ist, den Speer zum Beispiel über 70 Meter wirft. Man muss gucken, wie er sich körperlich entwickelt, und er muss sich im Sprint noch verbessern. 11,20 oder 11,30 Sekunden über 100 Meter reichen nicht, man muss deutlich unter 11 Sekunden laufen, um in den Bereich meines Rekords zu kommen. Sehr gefreut hat mich der EM-Titel von Arthur Abele zuletzt in Berlin, der den Ruf Deutschlands als Zehnkampfnation mal wieder bestätigt hat.

Vor fünfeinhalb Wochen schraubte der Franzose Kévin Mayer den Weltrekord auf 9126 Punkte. Was sagen Sie zu dieser Leistung und wo ist das Ende der Fahnenstange?

Wir hätten in den Achtzigern auch schon über 9000 Punkte machen können, wenn alles gepasst hätte. Bei meinem letzten Weltrekord in Mannheim hat es geregnet und gehagelt. Der Franzose hat trotz des Fabelweltrekords noch Luft nach oben, denn die Trainingslehre wird immer besser. Es gibt technische Möglichkeiten, die wir nicht hatten, die Wissenschaft kennt fast keine Grenzen. Es ist deshalb nicht unerklärlich, dass sich der Weltrekord im Zehnkampf so verbessert hat. Aber: Daley Thompson und ich hatten schon über 9300 Punkte, wenn man die Bestleistungen aller zehn Disziplinen zusammengerechnet hat. Wenn du einen Zehnkampf mit mehreren Bestleistungen erwischst, dann geht es eben in diese Richtung.

Vor allem der Fußball zieht die mediale Aufmerksamkeit immer stärker auf sich. Haben Sie Ideen, wie sich die Leichtathletik in Deutschland in Zukunft entwickeln muss?

Das Format, wie wir es bei den Europameisterschaften in Berlin und Glasgow zuletzt erlebt haben, war super. Die Einschaltquoten haben gestimmt, im Olympiastadion hatten wir fast volles Haus, die Atmosphäre war toll. Das ist der Weg, den die Leichtathletik gehen muss, leider kommen solche Highlights zu selten vor, bei denen der Sport medial wahrgenommen wird. Das betrifft viele Sportarten, der Fußball hat eine zu große Lobby. Eine Alternative sind Streamingportale im Internet – da müssen wir uns noch weiterentwickeln, da gehört auch ein Vermarktungskonzept dazu. Und die Leichtathletik lebt von Typen – als wir in Los Angeles den Zehnkampf bestritten haben, sind viele Leute nachts aufgestanden. Bei den Frauen gibt es da ein paar Läuferinnen, die auf sich aufmerksam machen, bei den Männern ist es schwierig geworden.

In Weissach im Tal halten Sie am Freitag einen Vortrag mit dem Titel „Rücken-Zehnkampf“. Was macht Sie zum Fachmann für Rückenprobleme und was erwartet die Besucher?

Ich hatte von Kindheit an immer wieder Probleme. Im Alter von 14 bis 16 Jahren bin ich um 14 Zentimeter gewachsen, da hatte ich die Scheuermann’sche Krankheit. Ich hätte keinen Leistungssport betreiben können, wenn nicht mit 19 Jahren in Freiburg in der sportmedizinischen Abteilung Röntgenaufnahmen gemacht worden wären und man feststellte, dass meine Wirbelsäule steif wie ein Stock war und nicht wie üblich eine S-Form hatte. Ich musste frühzeitig mit gezieltem Rückentraining beginnen, um überhaupt mit Leistungssport beginnen zu können. Die Rückenprobleme meldeten sich im Laufe der Zeit immer wieder. Ich hatte mindestens zweimal im Jahr einen Hexenschuss, obwohl ich gutes Rückentraining machte. Gerätespezifisches Rückentraining kannte ich damals jedoch noch nicht, das habe ich erst vor zwei Jahren mit der FPZ-Therapie kennengelernt.

Wie geht es Ihrem Rücken heute?

Ich mache das mit viel Erfolg, habe keine Probleme mehr. Das heißt nicht, dass ich nicht einmal ein Ziehen im Rücken habe, wenn ich drei Stunden Rad gefahren bin, aber es ist doch deutlich besser geworden. Man muss dranbleiben, von daher bringe ich viel Erfahrung mit. Wir bereiten 200 Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene vor, die wir über ein Online-Portal zugänglich machen wollen. Auf das Endprodukt freue ich mich, der Titel Rücken- Zehnkampf passt zu meiner Disziplin.

Jürgen Hingsen ist der Stargast bei der Eröffnung des Gesundheitssportzentrums MediSports HealthClub in Unterweissach (Unterm Kamin 2), die von Freitag bis Sonntag jeweils von 10 bis 18 Uhr gefeiert wird. Der Ex-Weltklassezehnkämpfer hält am Freitag ab 18 Uhr als Markenbotschafter des Unternehmens FPZ einen Vortrag über den Umgang mit seinen Rückenproblemen und baut Anekdoten aus seiner Karriere ein.

Jürgen Hingsen Zur Person 1958 wurde Jürgen Hingsen am 25. Januar in Duisburg geboren. Seine Karriere als Zehnkämpfer begann 1976 bei Bayer Uerdingen. 1984stellte der 2,03 Meter große und gut 100 Kilogramm schwere Modellathlet mit 8832 Punkten seinen dritten und letzten Weltrekord auf, der wieder gebrochen wurde, aber bis heute deutscher Rekord ist. Im selben Jahr holte Hingsen in Los Angeles olympisches Silber, dazu kamen WM-Silber in Helsinki (1983) und zweimal EM-Silber in Athen (1982) und Stuttgart (1986). 1988 erlebte der Sportler bei den Olympischen Spielen in Seoul seine größte Enttäuschung, als er nach drei Fehlstarts im 100-Meter-Lauf und damit bereits bei der ersten Disziplin disqualifiziert wurde. 2006 belegte Hingsen mit seiner Partnerin bei Let’s Dance von RTL Platz fünf.
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Erstellt:
24. Oktober 2018, 06:00 Uhr

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