Heimlich das Radfahren entdeckt

Tim Schlichenmaier aus Auenwald lässt sich nicht stoppen und hofft auf ein erfolgreiches Jahr

Im Jahr 2019 fuhr Tim Schlichenmaier fünf Siege im Straßenradsport ein. „Das will ich in diesem Jahr toppen“, hat der BKZ-Sportler des Jahres 2019 viel vor, auch wenn wegen des Coronavirus vorerst keine Wettkämpfe stattfinden. Dabei schämte sich der 28-Jährige anfangs für seine Leidenschaft– das sportliche Radfahren – und begann das Training als Jugendlicher inkognito im heimischen Keller in Mittelbrüden.

Tim Schlichenmaier gönnt sich vor dem Backnanger Stadtturm eine kurze Pause, ehe für ihn weitere Kilometer auf dem Rad anstehen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Tim Schlichenmaier gönnt sich vor dem Backnanger Stadtturm eine kurze Pause, ehe für ihn weitere Kilometer auf dem Rad anstehen. Foto: A. Becher

Von Michael Clauss

Eigentlich hätte Tim Schlichenmaier am vergangenen Wochenende die Radsportsaison in der Pfalz eröffnet und sich auf das Rundstreckenrennen am morgigen Sonntag in Waldrems vorbereitet. „Das ist für mich das Highlight zum Saisonanfang“, hatte sich Schlichenmaier noch vor wenigen Tagen auf das Heimspiel gefreut. Doch auch der Radsport muss wegen des Coronavirus pausieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Sportlern ist Schlichenmaier aber nicht zum Nichtstun verdammt. Er spult weiterhin seine Trainingskilometer alleine oder mit höchstens einem Trainingspartner mit vernünftigem Abstand herunter. Allein in diesem Jahr stehen bereits über 5500 Kilometer auf dem Tacho. Er ist ein Radverrückter im positiven Sinn.

Mit der heutigen Leidenschaft für das Zweirad hatte der in Mittelbrüden aufgewachsene Schlichenmaier in jungen Jahren nicht viel am Hut. „Ich war zu dick“, beschreibt er heute rückblickend den Grund, warum er als Kind mehrere Wochen zur Abnehmkur nach Murnau am Staffelsee geschickt wurde. Außer Heimweh und einer Ernährungsumstellung brachte er auch die Freude am Spinning, dem sportlichen Fahren auf einem stationären Rad, mit nach Hause. Ein Zwiespalt für den jugendlichen Tim, denn er hatte den Zweiradsport zuvor als uncool abgestempelt. „Also habe ich heimlich begonnen, jeden Tag im Keller eine halbe Stunde Rad zu fahren“, gewann der Ehrgeiz über die anfängliche Scham.

Ende 2006 war’s vorbei mit der Geheimniskrämerei, er meldete sich als 15-Jähriger beim Radverein Stuttgardia Stuttgart zum Training an. Der Späteinsteiger schaffte es bei seinem ersten Jugendrennen wenige Monate später auf Anhieb aufs Podest, verpasste aber die Siegerehrung. Der Neuling kannte die Abläufe noch nicht und war gerade auf einer Zusatzrunde zum Ausfahren, als die Sieger aufgerufen wurden. „Das ist mir natürlich nie wieder passiert“, lacht der inzwischen 28-jährige Schlichenmaier und kann von über 50 weiteren Siegen und vielen Podestplätzen berichten.

Allein im vergangenen Jahr heimste der für den RSC Kempten startende Schlichenmaier fünfmal den Siegerkranz ein, was ihn bis auf Platz 69 der deutschen Rangliste nach vorne brachte. Damit er die Auszeichnung zum BKZ-Sportler des Jahres 2019 nicht verpasste, verlegte Schlichenmaier mit Zustimmung von Freundin Sophie kurzerhand das Valentinsessen. „Eine der schönsten Auszeichnungen, die ich bisher erhalten habe“, schwärmt Schlichenmaier über die Zusatzmotivation für das Wettkampfjahr 2020. Jedoch ist im Moment der Siegeswille des Sportlers von der Coronapandemie genauso ausgebremst wie die Lieferung des neuen Fahrrads. Viele Teile des bis in das kleinste Detail windoptimierten Velos kommen aus Asien und verzögern sich. „Es ist für Ende März angekündigt“, so Schlichenmaier. Doch wann überhaupt wieder um Siegerehren gefahren wird, ist ungewiss. Selbst die deutschen Straßenradmeisterschaften vom 19. bis 21. Juni in Stuttgart stehen auf der Kippe. Dort würde er sich gerne mit Profifahrern messen. Den Sprung ins Profilager versuchte Schlichenmaier in den Jahren 2013 und 2014. „Wenn ich es innerhalb von zwei Jahren nicht schaffe, davon zu leben, dann komme ich zurück“, kündigte er bei seinem Arbeitgeber an. In der Zeit ergatterte er für das Continental-Team Bergstraße das Sprinttrikot der Thüringen-Rundfahrt, das vor ihm Sprintstars wie Mark Cavendish oder Robbie McEwen trugen.

Schlichenmaier setzte als Jungprofi Ausrufezeichen, schuftete bis zu 31000 Kilometer im Jahr auf dem Rad für den Durchbruch, doch für den Lebensunterhalt reichte es nicht. So kehrte der freigestellte Maschinenbautechniker nach zwei Jahren wieder an seinen Arbeitsplatz zurück. Statt 200 Tagen im Jahr auf Reisen für den Radsport sah er nun wieder öfters das Zuhause in Weissach im Tal. „Das war für mich eine Riesenumstellung und ich musste mir einen neuen Freundeskreis aufbauen“, erzählt er rückblickend. Seitdem fährt Schlichenmaier als Amateur beim RSC Kempten regelmäßig wieder aufs Podest. „Mein Ziel ist es, das vergangene Jahr zu toppen und nicht zu stürzen.“ Im Moment wird Schlichenmaier allerdings nur von Corona ausgebremst.

Info

Tim Schlichenmaier träumt von einem Start bei einem Ironman-Triathlon. „So etwas Extremes juckt mich, aber wenn dann mache ich es richtig“, sagt der Sportler, der schon erste Versuche unternommen hat. Mit den dabei zu bewältigenden 180 Kilometern auf dem Rad hätte Schlichenmaier sicher keine Probleme, auch das Schwimmen über knapp 3,9 Kilometer im Ozean hat er im Thailand-Urlaub bereits trainiert. „Es scheitert derzeit noch am Laufen“, ist der Ausdauerathlet zwar über zehn Kilometer mit weniger als 40 Minuten schnell unterwegs, für die Marathondistanz bei einem Ironman-Wettbewerb reicht es aber noch nicht. Nicht ausgeschlossen ist daher, dass der Führungsradfahrer des Backnanger Silvesterlaufs in den nächsten Jahren öfter die Laufschuhe schnüren wird, um sich somit verbessern zu können.

Auch eine Fahrt von Hamburg nach Weissach im Tal über rund 600 Kilometer, wohlgemerkt an einem Tag, hat Schlichenmaier als Idee im Kopf. Bislang schaffte er 427 Kilometer an einem Stück, als es mit der Trainingsgruppe vom Weissacher Tal an den Bodensee und zurück ging. Wer die Extreme liebt, hat auch öfter unfreiwilligen Bodenkontakt? Nein, von Stürzen blieb Schlichenmaier bisher weitestgehend verschont. „Überall fehlt aber ein bisschen Haut“, lacht der Athlet über manchen wohl unvermeidbaren Sturz. Je einmal traf es ihn schlimmer an beiden Schultern, sozusagen die Sollbruchstelle bei Radfahrern. „In den letzten vier Jahren hat es mich nur einmal erwischt“, klopft er dreimal zur symbolischen Absicherung auf den Holztisch.

Am morgigen Sonntag hätte das jährliche Rundstreckenrennen des RSV Waldrems in Backnangs Süden stattfinden sollen. Als die ersten Sportveranstaltungen wegen der Coronapandemie abgesagt wurden, hatten die RSV-Verantwortlichen noch gehofft, dass die Rennräder auf dem Rundkurs zwischen Waldrems und Horbach doch rollen werden. „Wegen der Coronakrise abgesagt“ – so überschreibt aber inzwischen ein gelbes Banner das Veranstaltungsplakat auf der Homepage des Vereins. „Das Rennen möchte ich noch mal gewinnen“, sagte Schlichenmaier als Sieger von 2015 vor wenigen Tagen, als die Sportwelt erst langsam begann, die Wettkämpfe abzusagen. Dieses Vorhaben muss der Radsportler aber nun in das nächste Jahr verschieben.

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Erstellt:
28. März 2020, 06:00 Uhr

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