Löw gerät unter Zeitdruck - Gnabry trifft immer

dpa Dortmund. Beim Bundestrainer kommt gegen Argentinien ein Confed-Cup-Gefühl zurück. Die junge Not-Elf um Nobody Koch, Talent Havertz und einen Erfolgsgaranten macht erst Spaß - und knickt dann ein. Juniorchef Kimmich erkennt ein Muster, das Richtung EM 2020 Zweifel schürt.

Gang in die Kurve: Die DFB-Elf bedankt sich bei den Fans in Dortmund. Foto: Marius Becker/dpa

Gang in die Kurve: Die DFB-Elf bedankt sich bei den Fans in Dortmund. Foto: Marius Becker/dpa

Am Ende einer aufregenden Achterbahnfahrt zwischen Fußball-Lust und Ergebnis-Frust posierte Joachim Löw noch geduldig für Fotos.

Die Geduld des Bundestrainers beim Entwicklungsprozess der radikal erneuerten Fußball-Nationalelf wird dagegen gerade arg strapaziert, auch wenn der 59-Jährige aus dem schwungvollen 2:2 (2:0) seiner Not-Elf gegen Argentinien „persönlich viele positive Erkenntnisse“ zog. „Ich muss der Mannschaft ein Kompliment machen, mit welchem Mut, mit welchem Herz sie gespielt hat“, lobte Löw. Gleichzeitig spürt er, dass ihm Richtung EM 2020 die Zeit davonläuft.

„Ja, aber“ - diese Bewertung konnte auf fast alle Geschehnisse im Kräftemessen mit dem zweimaligen Weltmeister angewendet werden, der ohne den gesperrten Lionel Messi erst spät aufdrehte. Eindeutig fiel allein Löws Antwort auf die Frage des Teenagers Jonas aus, der vor dem Foto mit dem Bundestrainer zum Schluss der Pressekonferenz die letzte Frage stellen durfte. „Nein“, entgegnete Löw in väterlichem Tonfall, ob er denn nun an diesem Sonntag (20.45 Uhr/RTL) in Tallinn gegen Estland noch einmal dieselbe Elf aufbieten werde.

„Estland ist ein ganz anderer Gegner als Argentinien“, erläuterte Löw: „Estland spielt, weißt du, mehr zurückgezogen. Sie verteidigen in erster Linie ihr Tor. Da brauchen wir einen offensiven Spieler mehr auf dem Platz. Da wird es Wechsel geben.“ Der neue Offensive wird, auch das verriet Löw schon, der wegen leichter Beschwerden am Knie in seinem Heimstadion geschonte BVB-Profi Marco Reus sein.

Auf den leicht am Muskel verletzten Ilkay Gündogan hofft Löw ebenfalls noch: „Wenn der Ilkay fit ist, spielt er natürlich.“ Das Ziel für die Pflichtübung in Estland formulierte Aushilfs-Kapitän Joshua Kimmich: „Da gibt es natürlich nur eins: Das Spiel müssen wir gewinnen.“

Bei allem Zukunftspotenzial, das sich um die vier eingesetzten Neulinge Robin Koch, Luca Waldschmidt (beide Freiburg), Nadiem Amiri (Leverkusen) und Suat Serdar (Schalke) erweiterte, benötigt Löw Erfahrung im Team und schnelle Entwicklungsschübe. Wie beim neuen Erfolgsgaranten Serge Gnabry oder Juniorchef Kimmich, dem starken Torvorbereiter Lukas Klostermann oder dem gerade mal 20 Jahre alten Premieren-Torschützen Kai Havertz, dessen Spielmacher-Talent im nur mit 45 000 Zuschauern gefüllten Signal-Iduna-Park erkennbar war.

Die aus der Not zusammengewürfelte DFB-Elf verblüffte nur eine Stunde lang, ehe sie „ins Schwimmen“ geriet, wie der Bundestrainer einräumte. In der ersten Halbzeit sah er nach Ballgewinnen Tempofußball „mit sehr guten Kombinationen, vielen Abschlüssen und schönen Toren“ von Gnabry und Havertz. „In der Summe, wenn man die ganzen Umstände betrachtet, war es nicht schlecht“, urteilte Kimmich. Der Münchner erkannte aber auch ein latentes Problem dieser Mannschaft im Umbruch: „Wir kriegen hinten raus die Tore. Das ist uns leider jetzt schon öfter passiert.“

Löws Generation Zukunft gehen noch Reife, Dominanz, Abgeklärtheit und Konstanz über 90 Minuten ab. Gegen Argentinien setzte sich fort, was nach der radikalen Verjüngung vor zwölf Monaten in Paris beim 1:2 gegen Frankreich nach einer 1:0-Pausenführung gegen alle namhaften Gegner passierte. Gegen die Niederlande wurde beim 2:2 im November 2018 ein 2:0 zur Pause verspielt. Beim 2:4 im September war es gegen Oranje eine 1:0-Pausenführung. Und selbst beim 3:2 im Hinspiel gegen die Holländer stand es nach einem 2:0 zwischenzeitlich 2:2.

Löw spürt, dass die Zeit nicht reichen könnte, um schon im kommenden Sommer wieder zum erweiterten EM-Favoritenkreis zu zählen. Starten Havertz und Co. im Eiltempo durch? Oder schlägt deren Stunde erst bei der WM 2022 oder sogar erst bei der Heim-EM 2024? „Im Endeffekt zählen die Spiele, die Taten auf dem Platz. Da bringt es nichts, wenn man jetzt hochgejubelt wird“, sagte der Leverkusener Havertz.

Löws Masterplan für die inklusive Estland nur noch sieben Spiele bis zum EM-Erstfall hieß Einspielen einer ersten Elf. Eine Flut von Ausfällen und langwierigen Verletzungen wie die von Leroy Sané vereitelt das. „Ganz optimal ist es in den letzten Monaten nicht gelaufen. Es gab einen Bruch nach der Sommerpause“, klagte Löw. Freude macht der Elan der Generation Kimmich-Gnabry-Süle, die bei Löw wieder das Gefühl des Confed-Cup-Abenteuers 2017 aufkommen lässt.

Insbesondere Turbostürmer Gnabry entwickelt sich zu einem echten Erfolgsgaranten. Der 24-Jährige, der zuletzt vier Tore für den FC Bayern beim 7:2 gegen Tottenham in der Champions League schoss, treibt seinen Status in die Höhe. Es heißt bei Löw nicht mehr nur: Gnabry spielt immer. Jetzt heißt es: Gnabry trifft immer! Elf Tore in zehn Länderspielen, davon sechs in den letzten sechs Partien.

Löw überbietet sich jedes Mal aufs Neue in seinen Schwärmereien. „Er ist ein wahnsinniges Tempo gegangen, ist überall aufgetaucht und war ständig brandgefährlich. Er hat die ganze Abwehr der Argentinier verunsichert.“ Nach dem langfristigen Ausfall von Sané würde Löw den Angreifer am liebsten in Watte packen. Er nahm Gnabry mit Blick auf Estland auch raus, als es für das DFB-Team nach dem 1:2 der Argentinier eng wurde. „Wir brauchen ihn in den nächsten Spielen. Da war mir das Risiko zu groß, dass da was passieren könnte“, begründete Löw.

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Erstellt:
10. Oktober 2019, 12:42 Uhr

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