Mercedes fürchtet Ferraris Revanche

Trotz perfekten Saisonstarts geht Lewis Hamilton mit gemischten Gefühlen in den Grand Prix von China – Hat Ferrari 40 PS mehr?

In der Formel-1-WM liegen Valtteri Bottas und Lewis Hamilton vorn – doch Mercedes ist nicht so dominant wie in den Jahren zuvor. Das räumt auch Teamchef Toto Wolff unumwunden ein.

ShanGhai Die Bilanz ist vor dem Großen Preis von China an diesem Sonntag (8.10 Uhr/RTL) makellos: zwei Rennen, zwei Doppelsiege. So gut ist Mercedes noch nie in eine Saison gestartet. Vor einem Jahr zeigte Gegner Ferrari eine ähnliche Frühform, Mercedes musste bis zum vierten Grand Prix warten, ehe Hamilton in Baku einen Sieg feierte. Mit dem perfekten Saisonstart 2019 düpierte Mercedes alle Experten, die Ferrari in die Favoritenrolle drängten. Tatsächlich sah man im Februar im Lager von Mercedes in viele besorgte Gesichter. Ferrari war nach Einschätzung von Lewis Hamilton und Valtteri Bottas eine halbe Sekunde pro Runde schneller. Das eigene Sportgerät zeigte Launen, bevor es in den letzten Teststunden gezähmt werden konnte. „Da haben wir zum ersten Mal Licht am Ende des Tunnels gesehen“, erinnert sich Teamchef Toto Wolff.

Als Mercedes beim Saisonauftakt in Melbourne alles in Grund und Boden fuhr, unterstellte man den Titelverteidigern den großen Bluff. Die Konkurrenz sollte im Glauben gelassen werden, dass der Seriensieger verwundbar sei. „Blödsinn“, erwidert Wolff. „Wir sind wirklich mit Problemen gestartet und haben uns mit harter Arbeit befreit.“ Genau das ist eine der großen Qualitäten von Mercedes. Auch Ferrari-Teamchef Mattia Binotto applaudiert anerkennend: „Es gibt kein Team, das seine Probleme so schnell und zuverlässig löst wie Mercedes. Man darf sich bei ihnen nie sicher fühlen.“

Mercedes bewahrte kühlen Kopf. Die Ingenieure warfen zwar ein Auge auf das Frontflügelkonzept des Ferrari, aber sie vertrauten ihrer Konstruktionsphilosophie. In der Analyse zeigte sich vielmehr, dass man die schlechte Eigenschaft des W10 ohne konstruktive Maßnahmen lösen kann. Die Unruhe im Heck in schnellen Kurven lässt sich mit der entsprechenden Fahrzeugabstimmung leicht wieder aus der Welt schaffen – und genau das war der limitierende Faktor bei den Probefahrten. Die gute Nachricht: Der neue Mercedes ist in langsamen Kurven besser als der alte. Die Stärke behalten, Schwäche beseitigt – und schon war der Silberpfeil in Melbourne ein Siegerauto.

Die Überraschung war die Leichtigkeit des ersten Triumphes. Toto Wolff wollte nicht glauben, dass Ferrari so schlecht war, wie sich die roten Autos in Australien präsentierten. Er sollte recht behalten. In Bahrain war Ferrari wieder da. Mit zwei roten Autos in der ersten Startreihe. Wolff sah sich bestätigt: „Melbourne war für Ferrari ein Ausreißer nach unten.“ Der Doppelsieg in Bahrain für Mercedes war ein Geschenk. Charles Leclerc hatte einen Vorsprung von 10,4 Sekunden, als sich in seinem Motor Unheil zusammenbraute. An einem Zylinder fiel wegen eines Kurzschlusses der Zündfunke aus. Hamilton bezeichnete seinen 74. Grand-Prix-Sieg als „Triumph der Zuverlässigkeit“. Der fünffache Weltmeister nahm sein Team deshalb in die Pflicht: „Wir müssen zulegen. Ferrari war stärker als wir.“ Bei Mercedes wurde nur verhalten gefeiert. Wolff wehrte alle Vermutungen, Mercedes sei in Bahrain mit zu viel Abtrieb gefahren, ab: „Du kannst ein Zehntel mit mehr Luftwiderstand erklären, aber nicht vier. Das war schiere Motorleistung.“ Damit hatte man bei Mercedes am wenigsten gerechnet. Vom Motor her wähnte man sich selbst nach den Testfahrten auf Augenhöhe mit Ferrari.

Das Paket rund um den Antrieb des SF90 ist stark – aber am Limit gestrickt. Schon bei den Wintertests blieb der Ferrari oft stehen. In Melbourne räumte Binotto „Probleme mit dem Antriebsstrang“ ein. Erst beim zweiten Rennen ließ Ferrari alle „Pferde“ von der Kette. Die Ingenieure von Mercedes sprechen von einem 40-PS-Vorsprung der Italiener. Wenn Ferraris ­Power-Show in der Wüste keine Fata Morgana war, dann kann Mercedes nur die Zuverlässigkeit als Trumpfkarte dagegensetzen. „So einen Unterschied holst du nicht in zwei Wochen auf“, fürchtet Wolff.

Weltmeister Hamilton bestätigt: „Sollte der Vorsprung von Ferrari beim Motor so groß sein, wäre das fatal. Das ist schwerer zu egalisieren als ein Chassis-Problem. Wir müssten bei der Motorentwicklung Risiken eingehen.“ Sein Teamkollege Valtteri Bottas sieht Mercedes deshalb für die nächsten beiden Rennen in Shanghai und Baku in der Defensive: „Auf den beiden Strecken sind die Geraden noch länger.“ Sollte sich das Bild fortsetzen, wird sich Mercedes auf zwei seiner herausragenden Tugenden stützen müssen: die Zuverlässigkeit und die Gabe, das Maximum aus jeder Situation zu holen.

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Erstellt:
13. April 2019, 03:14 Uhr

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