Flick-Assistent Marcus Sorg im Interview

Sorgs Verbundenheit zu Jogi Löw und seine Lehren für die WM in Katar

Marcus Sorg, Co-Trainer der DFB-Elf, spricht über die Unterschiede von Hansi Flick und Joachim Löw, Videocalls mit Nationalspielern – und das Ziel WM-Titel.

Assistent Marcus Sorg zeigt sich engagiert und verkabelt an der Seitenlinie – während der Länderspiele ist er stets mit  einem Kollegen auf der Tribüne verbunden.

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Assistent Marcus Sorg zeigt sich engagiert und verkabelt an der Seitenlinie – während der Länderspiele ist er stets mit einem Kollegen auf der Tribüne verbunden.

Von Marco Seliger

Marcus Sorg desinfiziert sich in der großen Lounge im DFB-Camp von Herzogenaurach die Hände, dann gibt es einen festen Händedruck – und klare Ansagen im Gespräch auf dem Sofa.

Herr Sorg, die Hälfte des Viererpacks der Nations League im Juni ist absolviert, wie ist der Zwischenstand der DFB-Elf?

Die Stimmung ist sehr gut im Team, alle sind voll dabei und top motiviert. Ich habe ein sehr gutes Gefühl.

Der Bundestrainer Hansi Flick ist seit knapp einem Jahr im Amt, Sie sind seit sechs Jahren als Assistent dabei in der DFB-Elf – hat sich schon alles eingespielt im neuen Trainerteam?

Ja, es wäre auch schlimm, wenn wir nach fast einem Jahr noch keine Routinen hätten (lacht).

„Wir arbeiten im Team“

Wie sieht Ihre Rolle im Trainerteam konkret aus?

Es gibt keine klassische strikte Aufgabenteilung, wie sie in anderen Sportarten möglich ist, etwa im Basketball oder im American Football, wo das Team sogar in Offensive und Defensive aufgeteilt ist. Während der Partie kann man die Spieler, die gerade nicht auf dem Feld stehen, sogar coachen. Im Fußball ist es unmöglich, den Fokus ausschließlich auf die Defensive oder die Offensive zu legen, dafür ist das Spiel zu dynamisch. Alles muss im Fußball ineinandergreifen, nichts ist losgelöst voneinander zu betrachten. Wir arbeiten im Team, und jeder unterstützt den anderen.

Wie sieht die Aufgabenteilung in der DFB-Elf aus unter dem Chef Flick, von dem bekannt ist, dass er seinem Stab gerne Verantwortung abgibt?

Hansi gibt seinen Mitarbeitern viele Freiräume, das stimmt. Er lässt sein Team erst mal eigenverantwortlich arbeiten. Gleichzeitig hat er hohe Ansprüche. Denn am Ende muss er die Entscheidungen aus Überzeugung treffen. Wir im Trainerteam unterstützen ihn dabei und versuchen, ihm Möglichkeiten aufzuzeigen.

Sorg ist der letzte verbliebene Löw-Assistent

Sie sind einer der wenigen verbliebenen Mohikaner aus dem Kreis des Trainerteams von Vorgänger Joachim Löw – inwieweit war der radikale fußballerische Ansatz Hansi Flicks, vehement nach vorne zu pressen, Neuland für Sie?

So hat Hansi ja schon beim FC Bayern spielen lassen, überrascht hat es mich also nicht. Die Konsequenz, mit der Hansi seine Vorstellungen umsetzen möchte, finde ich aber sehr beeindruckend.

Ganz plastisch: Wie soll der Flick-Fußball aussehen, und wie unterscheidet er sich vom Fußball unter Löw?

In der Defensive, also im Spiel bei gegnerischem Ballbesitz, haben wir jetzt einen aktiveren Ansatz. Wir wollen den Gegner frühestmöglich unter Druck setzen, wenn er den Ball hat. Wir wollen ihn also vorne früh stören und so zu Fehlern zwingen.

So können aber weiter hinten Räume entstehen, die der Gegner nutzen kann.

Das stimmt – aber es ist nicht schlimm, hinten mehr Räume zuzulassen, wenn man vorne im Kollektiv Druck auf den gegnerischen Ballbesitzer konsequent und richtig ausübt. Allerdings ist hierfür ein maximales Maß an Abstimmung nötig.

Videositzungen mit den Spielern gehören zum Alltag

Um die Ausrichtung zu vermitteln, gibt es neben den Trainingseinheiten Videositzungen, Einzelgespräche oder Meetings, teils nach Positionen aufgesplittet, das teilen Sie sich im Trainerteam auf. Was steht sonst noch an?

Sie haben jetzt die Zeit rund um die Länderspiele umrissen, wenn wir die Nationalspieler bei uns haben – außerhalb dieser Phasen teilen wir uns im Trainerteam, wenn der Ligabetrieb läuft, etwa auch für Spielbeobachtungen und Videositzungen mit den Nationalspielern auf. Es ist extrem wichtig, dass wir mit unseren Jungs und deren Clubs oft in Kontakt sind. Wir wollen Potenziale wecken und den Spielern Wege aufzeigen, wie sie sich permanent verbessern können. Vor allem in der Zeit zwischen den Abstellungsperioden.

Wie geht das, wenn man die Spieler im Alltag meist nicht zur Verfügung hat?

Wir sind in ständigem Austausch mit den jeweiligen Vereinstrainern, aber in erster Linie versuchen wir unseren Nationalspielern Potenziale über Videocalls aufzuzeigen.

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Ein gutes Beispiel für diese Arbeit und den Austausch ist Senkrechtstarter Nico Schlotterbeck, der uns im Interview berichtet hat, dass sowohl sein Freiburger Trainer Christian Streich als auch Flick von ihm fordern, aktiver zu sein, weil er noch zu viele passive Phasen habe.

Genau das ist es. In diesem konkreten Fall hat sich Hansi kontinuierlich mit Christian Streich ausgetauscht, weil sie beide die gleichen Dinge in Nicos Spiel gesehen haben. Und wenn er bei uns dann die gleichen Inhalte wie in Freiburg hört, weil wir gemeinsam den Spieler noch besser machen wollen, kann das ja nur einen positiven Effekt auf seine Entwicklung haben.

„Löw hat unfassbar viel Ruhe ausgestrahlt“

Sie haben fünf Jahre unter Löw und jetzt eines unter Flick gearbeitet. Was sind die größten Unterschiede der beiden?

Jeder hat natürlich seine eigene Persönlichkeit, aber beide sind herausragende Menschen und sehr erfolgreiche Trainer. Mit Hansi ist eine Art Aufbruchstimmung zur Nationalelf zurückgekehrt. Denn wenn wie in der gemeinsamen Zeit mit Jogi am Ende die Ergebnisse nicht mehr konstant stimmen, ist in der öffentlichen Wahrnehmung plötzlich alles vergessen, was vorher sehr erfolgreich war. Dann wird plötzlich alles negativ gesehen und interpretiert. Das finde ich sehr schade. Aber das ist auch Teil unseres Trainerjobs, da bin ich schon realistisch.

Was hat Sie bei Löw geprägt?

Was ich an Jogi immer sehr geschätzt habe, ist seine Gabe, im Alltag niemals Druck, den er hatte, an andere im Team weiterzugeben. 15 Jahre Bundestrainer bedeuten 15 Jahre Druck – phasenweise unheimlicher Druck. Er hat immer Verantwortung übernommen und nichts abgeschoben. Und er hat sich selbst bei widrigsten Umständen nie beklagt oder gehadert. Nehmen wir zum Beispiel das ex­trem schwere Coronajahr 2020 . . .

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. . . in dem es Spielabsagen und extrem viele Ausfälle von Spielern gab, wenn denn mal ein Länderspiel stattfand.

Genau. Was heute gerne mal vergessen wird: 2019 war ein sehr gutes Jahr der Nationalmannschaft, dann kam die Pandemie. Wir hatten 2020 phasenweise zehn bis 15 Spieler, die wegen Corona ausgefallen sind – und Jogi ist trotzdem positiv geblieben. Er hat uns immer vermittelt, dass wir es auch dieses Mal wieder hinkriegen. Er hat unfassbar viel Ruhe ausgestrahlt und so dafür gesorgt, dass keiner in Hektik verfällt. So etwas schätze ich über die Maßen an einem Menschen.

„Erfolge erwachsen oft aus Misserfolgen“

Dennoch gab es nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 am Ende auch bei der EM 2021 keinen Erfolg. Hat das Ihr Verhältnis zu Löw belastet?

Nein, im Gegenteil, wir haben ein exzellentes Verhältnis, ich würde es sogar als Freundschaft bezeichnen. Es ist doch so: Wenn du Erfolg hast, kommen die Schulterklopfer ums Eck. In schwierigen Zeiten zeigt sich aber, auf wen du dich verlassen kannst. Diese Zeiten haben Jogi und mich aus meiner Sicht sehr miteinander verbunden.

Ihre Verbindung zu Löws Nachfolger Flick, der vorher schon mal DFB-Sportdirektor war, besteht auch schon lange. Jetzt wollen Sie mit Flick Weltmeister werden. Worauf kommt es in Katar an?

Ich habe erlebt, dass sich in einem Turnier selbst etwas in der Mannschaft entwickeln muss, unter den Jungs muss ein positiver, unbedingter Wille entstehen. Abseits des Platzes, aber auch auf dem Feld muss etwas passieren, innerhalb kürzester Zeit müssen Selbstverständnis und Selbstvertrauen erwachsen. Ich glaube, dass uns da auch die Erfahrung der EM 2021 weiterhelfen kann.

Warum das? Da sind Sie im Achtelfinale ausgeschieden.

Ja, aber Erfolge erwachsen oft aus Misserfolgen, daraus kannst du Kraft ziehen. Ich bin mir sicher, dass unsere Jungs in die WM gehen und sich vornehmen werden, dass ihnen so etwas nicht noch einmal passiert.

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Erstellt:
9. Juni 2022, 18:26 Uhr

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