„Mordanschlag“: Heftige Kritik nach Jakobsens Horrorsturz

dpa Kattowitz. Der schwere Sturz des niederländischen Radprofis Fabio Jakobsen lässt das Sportliche der Polen-Rundfahrt in den Hintergrund rücken. Die Rennveranstalter und auch der Unfall-Verursacher werden attackiert.

Stürzte bei der Polen-Rundfahrt schwer: Fabio Jakobsen (l). Foto: Tomasz Markowski/AP/dpa

Stürzte bei der Polen-Rundfahrt schwer: Fabio Jakobsen (l). Foto: Tomasz Markowski/AP/dpa

Patrick Lefevere wählte drastische Worte. „Ich werfe ihm einen Mordanschlag vor, nichts mehr und nichts weniger“, sagte der Teamchef des belgischen Radsport-Teams Deceuninck-Quick Step, am Donnerstag im belgischen Radio.

Lefevere meinte den niederländischen Radprofi Dylan Groenewegen, der am Tag zuvor auf der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt Quick-Step-Profi und Landsmann Fabio Jakobsen beim Zielsprint in Kattowitz abgedrängt und durch seine Aktion einen folgenschweren Crash ausgelöst hatte.

Der Zustand sei „sehr schlimm. Wir beten weiter, dass er überlebt“, sagte Lefevere. „Alle Knochen in seinem Gesicht sind gebrochen“, erklärte der Belgier, nachdem Jakobsen zuvor fünf Stunden operiert worden war. Der 23 Jahre niederländische Straßenmeister, der in ein künstliches Koma versetzt wurde, war nach dem Fahrmanöver Groenewegens bei sehr hoher Geschwindigkeit direkt in die Absperrgitter gekracht und reglos liegengeblieben.

Rennärztin Barbara Jerschena gab nach der OP zumindest erste Entwarnung und sagte der Nachrichtenagentur PAP, Jacobsen habe die Operation gut überstanden und sei nicht mehr in Lebensgefahr. Bis Freitagmorgen soll Jakobsen schrittweise aus dem künstlichen Koma geholt werden. „Die Versuche, den Patienten auf dem künstlichen Koma zu holen, wird schrittweise erfolgen, daher wird dies vermutlich erst morgen in den frühen Morgenstunden der Fall sein, und erst dann können wir neue Informationen über seinen Gesundheitszustand geben“, sagte ein Sprecher des Krankenhauses in Sosnowiec.

Bereits am Vorabend hatte Lefevere gesagt, dass Groenewegen eine Gefängnisstrafe verdiene. Diese Worte bedauere er nicht, sagte er: „Wir werden Schritte unternehmen, um bei der UCI und der Polizei Anzeige zu erstatten.“ Trotz des schweren Sturzes kündigte Lefevere an, dass sein Team an der zweiten Etappe an den Start gehen werde.

Der Radsportweltverband UCI teilte mit, dass man den Fall an die Disziplinarkommission weitergeleitet habe, um Sanktionen gegen Groenewegen zu beantragen. „Die UCI verurteilt das gefährliche Verhalten auf das Schärfste“, hieß es in dem Statement.

„Ich finde es schrecklich, was gestern passiert ist. Ich kann nicht beschreiben, wie schlimm ich es finde für Fabio und die anderen, die gestürzt oder betroffen sind. Im Moment ist die Gesundheit von Fabio das Wichtigste. Ich denke ständig an ihn“, twitterte Groenewegen am Donnerstag. Auch der Sturzverursacher kam nicht unbeschadet davon, er wurde in Opole am Schlüsselbein operiert.

Heftige Kritik an den Veranstaltern der fünftägigen WorldTour-Rundfahrt übten CCC-Profi Simon Geschke und weitere Radprofis. „Jedes Jahr derselbe dumme Bergab-Sprint bei der Polen-Rundfahrt. Jedes Jahr frage ich mich, warum die Organisatoren denken, das sei eine gute Idee“, schrieb der 34 Jahre alte gebürtige Berliner auf Twitter. „Massensprints sind gefährlich genug, man braucht kein Bergab-Finale mit 80 km/h“, ergänzte der Tour-de-France-Etappensieger von 2015.

„Ich habe mir das Finale und den Crash bestimmt 30 Mal angeguckt und die Brutalität des Crash schockiert mich noch immer“, twitterte Ex-Weltklassesprinter Marcel Kittel. „Ich will da jetzt niemanden angreifen. Ich bin die Polen-Rundfahrt noch nie gefahren, aber ich habe von anderen Rennfahrern gehört, dass die Rundfahrt eh schon sehr berühmt-berüchtigt ist. Ein Bergab-Sprint, bei dem man bis zu 85 km/h erreicht, da fragt man sich schon: Muss das sein?“, sagte Rick Zabel, der in Polen nicht im Einsatz ist, der Deutschen Presse-Agentur.

„Ein normaler Sprint mit 50-60 km/h ist schon schnell genug. Da muss man es nicht noch riskanter machen. Solche Zielankünfte sollten verboten werden. Es ist immer schade, dass erst was passieren muss, ehe solche Diskussionen entstehen“, sagte Rick Zabel. Ähnlich sieht es Kittel. Er hoffe, dass die Frage nun ernsthaft diskutiert werde, ob es Bergab-Sprints mit Geschwindigkeiten von 80 km/h geben müsse, sagte der 14-malige Tour-Etappengewinner dem „Münchner Merkur“.

Auch Lotto-Soudal-Profi Roger Kluge stellte die Streckenführung in Frage und kritisierte zugleich das Verhalten einiger Kollegen. „Es ist ja schon seit Jahren die Frage, ob man an dieser Stelle das Ziel machen muss“, sagte er der „Lausitzer Rundschau“. „So etwas muss nicht sein. Einige Sprinter verlassen immer wieder ihre Linie. Wenn sie geradeaus fahren würden, dann würde es besser ausgehen.“

Kluge selber war, wie auch Deutschlands Top-Sprinter Pascal Ackermann, in den fatalen Sturz nicht involviert. „Mir geht es gut. Ich hatte mega Glück im Zielsprint, dass ich die richtige Seite gewählt habe. Dort bin ich einigermaßen gut durchgekommen. Ich bin zwar 30 Kilometer vor dem Ziel auch gestürzt, aber letztlich kamen dabei nur ein paar Kratzer raus“, sagte er.

„Ich hatte verdammtes Glück, dass ich etwas zurück war mit meinem Sprint und die letzten 100 Meter habe rollen lassen. Sonst wäre ich auch dabei gewesen“, sagte Ackermann der Deutschen Presse-Agentur.

Der bei dem Unfall ebenfalls schwer am Kopf verletzte Mitarbeiter sei wieder bei Bewusstsein und ebenfalls in einem „stabilen Zustand“, wie die Renn-Organisatoren mitteilten. Zudem würden noch drei weitere Radprofis in Krankenhäusern behandelt.

Bereits im Vorjahr sorgte ein folgenschwerer Sturz bei der Polen-Rundfahrt für einen dramatischen Zwischenfall, als der erst 22 Jahre alte Belgier Bjorg Lambrecht auf der Etappe nach Zabrze bei vergleichsweise moderatem Tempo gegen eine Betonkonstruktion prallte und später seinen schweren Verletzungen erlag.

© dpa-infocom, dpa:200806-99-60787/11

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Erstellt:
6. August 2020, 07:23 Uhr

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