Filmfestspiele
Bewegendes Finale in Cannes
Die Goldene Palme für den heimlich gedrehten Film des Iraners Jafar Panahi, ein erster Preis für eine deutsche Regisseurin – am Samstagabend sind die Preise verliehen worden.

© SAMEER AL-DOUMY/AFP
Jafar Panahi und sein Team
Von Patrick Heidmann
Es war ein bedeutsamer und ohne Frage auch bewegender Moment, der sich am Samstagabend zum Abschluss der 78. Internationalen Filmfestspiele ereignete. Nur wenige Stunden, nachdem ein massiver, mehr als 160 000 Haushalte und Geschäfte betreffender Stromausfall nach mutmaßlicher Sabotage für Chaos sorgte, während im Festivalpalast dank eigener Generatoren der Betrieb fast normal weiterlief, gewann der iranische Regisseur Jafar Panahi für seinen Film „It Was Just an Accident“ die Goldene Palme – und konnte sie, was noch ein paar Jahre zuvor unvorstellbar schien, persönlich aus den Händen von Jury-Präsidentin Juliette Binoche sowie Gast-Laudatorin Cate Blanchett entgegennehmen.
Nach seiner ersten Verhaftung 2010 wegen angeblich regierungsfeindlicher Propaganda war Panahi vom iranischen Regime mit einem Arbeits- und Einreiseverbot belegt worden, zwischenzeitlich stand er unter Hausarrest. Heimlich und unter zum Teil größten Gefahren drehte er weiter Filme, die aus dem Land geschmuggelt und auf Filmfestivals gefeiert wurden. Nach einer zweiten Verhaftung, aus der er 2023 nach einem Hungerstreik entlassen wurde, wurden allen Strafen und Beschränkungen unerwartet aufgehoben.
Unverschlüsselte Regimekritik
Davon, dass Panahi unter der aktuellen Führung in seiner Heimat je wieder offizielle Drehgenehmigungen bekommen wird, ist allerdings nicht auszugehen, und so ist nun auch „It Was Just an Accident“ wieder im Verborgenen und abseits des Systems entstanden. Es ist ein Film, der – so sagt es der Regisseur – geprägt ist von den Erfahrungen seines zweiten Gefängnisaufenthalts, „für die Menschen, denen ich hinter Gittern begegnet bin“.
Nie zuvor hat Panahi seine Regimekritik künstlerisch so deutlich und unverschlüsselt zum Ausdruck gebracht wie hier: der Automechaniker Vahid und einige Wegbegleiter wollen Rache nehmen an einem Mann, in dem sie aufgrund der Geräusche seiner Beinprothese ihren einstigen Peiniger wiedererkennen zu glauben, der sie im Gefängnis gefoltert hatte. Die Frauen tragen hier – anders als im Iran auch auf der Leinwand verlangt – nicht zwangsläufig Kopftücher, und immer wieder wird eine bittere Wut greifbar, selbst wenn zwischendurch auch Raum für Humor bleibt und am Ende die Menschlichkeit das letzte Wort hat.
Natürlich ist es auch eine politische Entscheidung der Wettbewerbs-Jury, zu der in diesem Jahr unter anderem auch Oscar-Gewinnerin Halle Berry oder die Schriftstellerin Leïla Slimani gehörten, ihren Hauptpreis an „It Was Just an Accident“ zu vergeben. Diese Goldene Palme ist auch eine Auszeichnung für die Kraft und Beharrlichkeit des Kinos und für den Mut und die aufrechte Widerständigkeit Panahis, der nun als vierter Regisseur der Filmgeschichte (nach Henri-Georges Clouzot, Michelangelo Antonioni und Robert Altman) bei allen drei großen Filmfestivals in Cannes, Venedig und Berlin gewonnen hat. Aber sein Werk gehörte auch filmisch zu den stärksten im diesjährigen Programm, was sich nicht zuletzt daran erkennen ließ, dass er – gemeinsam mit Sergei Loznitsas Historiendrama „Two Prosecutors“ – auch im viel beachteten Kritikerspiegel des Branchenblatts Screen International ganz vorne lag.
Starke Frau
Apropos Kritiker: Immer wieder war in Cannes in diesem Jahr ein gewisses Nörgeln zu hören, die Gesamtqualität des Wettbewerbs sei schwächer als sonst. Doch eigentlich fehlten nur ein oder zwei Filme, für die sich, wie zuletzt bei „Parasite“ oder „Anatomie eines Falles“, jeder begeistern konnte. Tatsächlich wurden in der besagten Screen International-Umfrage so viele Höchstbewertungen vergeben wie seit 2016 nicht mehr. Nur eben an höchst unterschiedliche Filme, weil die Geschmäcker in diesem Jahr weiter auseinander lagen denn je. Für die cineastische Diskussionskultur bei einem Filmfestival eher ein Gewinn, denn ein Nachteil.
Zu den Filmen, über die in diesem Jahr am meisten gesprochen wurde, gehörte auch „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski. Auch die Jury begeisterte sich für das stilistisch wie inhaltlich ambitionierte und komplexe Jahrhundertdrama: die Berliner Regisseurin erhielt der Preis der Jury und ist damit die erste deutsche Filmemacherin seit Wim Wendes vor über 40 Jahren, die einen der Hauptpreise aus Cannes mit nach Hause nehmen durfte. Den politischen Geist, der in diesem Jahr das gesamte Festival über dem Glamour Paroli geboten hatte, griff auch sie in ihrer Dankesrede auf: „Wir möchten diesen Preis all jenen widmen, die an Orten leben, an denen es nicht leicht ist oder unmöglich oder kaum möglich ist, Filme zu machen – und besonders jungen Filmschaffenden und insbesondere Frauen: Eure Stimmen sind wichtig. Gebt sie nicht auf.“
Unter den weiteren, durch die Bank verdient ausgezeichneten Filmen befanden sich im Übrigen allerlei deutsche Koproduktionen. Das ebenso facettenreiche wie berührende Familiendrama „Sentimental Value“ des Norwegers Joachim Trier erhielt den Großen Preis der Jury, der brasilianische Beitrag „O Agente Secreto“ von Kleber Mendoça Filho wurde mit Preisen für Hauptdarsteller Wagner Moura sowie die Regie bedacht und der Preis für die Beste Darstellerin ging an die französische Debütantin Nadia Melliti im queeren Coming of Age-Drama „La petite dernière“ von Hafsia Herzi.