Der inszenierte Rückzug eines Künstlers

Für den Backnanger Beitrag zum Kulturregion-Festival 2020 „Unter Beobachtung – Kunst des Rückzugs“ hat Dirk Schlichting die bunkerähnliche Station-P auf der Industriebrache Obere Walke gebaut und lässt die Betrachter zu Voyeuren werden.

Dirk Schlichting

© Alexander Becher

Dirk Schlichting

Von Ingrid Knack

BACKNANG. Auf der Oberen Walke in Backnang konnten die Passanten in dieser Woche Bauarbeiten beobachten. Geht es jetzt voran mit der Umsetzung der neuesten Pläne für dieses Areal? Immerhin sollen dort künftig rund 400 Wohnungen, ein Pflegeheim und ein Ärztehaus stehen und irgendwann einmal rund 1000 Menschen in neue Häuser einziehen. Sollte jemand solche Überlegungen angestellt haben, dem sei gesagt: Mit dem Konzept der Stadt und der Dibag Industriebau AG aus München, der das Gelände gehört, hat der Neubau auf der Industriebrache direkt am Murrufer rein gar nichts zu tun. Das wie ein Betonbunker anmutende Bauwerk ist die Station-P von Dirk Schlichting, der Beitrag des in Herne lebenden Künstlers und der Stadt Backnang zur Kunstaktion der Kulturregion Stuttgart mit dem Titel „Unter Beobachtung – Kunst des Rückzugs“ vom 25. September bis 18. Oktober.

Gottfried Hattinger, der künstlerische Leiter des Kulturregion-Projekts, hatte den 1965 in Düsseldorf geborenen Installationskünstler im vergangenen Jahr gefragt, ob er sich an dem Festival beteiligen wolle. „Dann sag mir eine Stadt“, war die Antwort Schlichtings. So kamen Backnang und Martin Schick, Leiter der Galerie der Stadt Backnang, ins Spiel. „Martin hat mich zwei Tage durch Backnang geführt. Ich bin bei der Brache hängen geblieben“, sagt Schlichting, der für seine ortsbezogenen Installationen bekannt ist. Beispielsweise hat er 2015 für das „Festival der Regionen“ im österreichischen Ebensee am Traunsee einen Treppenaufgang eingehaust, so entstand das „Stiegenmuseum“. Denn die Treppe führt von der Unterführung zwischen See und Ortszentrum auf eine Verkehrsinsel und ist zur Funktionslosigkeit verdammt. Dank Schlichting erhielt der Unort zumindest während der temporären Kultureinrichtung einen Sinn.

Die Industriebrache in der Oberen Walke in Backnang könnte man ebenfalls als Unort bezeichnen, eine Art Transitraum zwischen einmal da gewesener und zukünftiger Bebauung. Dirk Schlichting wertet diesen Raum mit seiner Fantasie auf, die durch eine perfekte Illusion mit der Vorstellungskraft der Betrachter einen Pakt schließt. Es ist ein Spiel zwischen Realität und Fiktion auf verschiedenen Plattformen.

Zunächst ist da das hermetisch abgeriegelte Gebäude, das ein Schutzbunker sein könnte. Oder soll die Installation eine Forschungsstation auf einer Insel mitten im Eismeer symbolisieren – wobei die Folien auf der Industriebrache für die Meeresgewässer am Nord- oder Südpol der Erde stehen könnten? Auf jeden Fall handelt es sich um einen für eine gewisse Zeit geschaffenen Ort irgendwo in der Ödnis. Und so wird es auch bleiben. Besucher sind unerwünscht, das Gelände ist eingezäunt. Näher als 100 bis 150 Meter kommt niemand an das Bauwerk heran. Wer aber wissen will, was da hinter verschlossenen Türen mitten auf der Brache passiert, kann das an einem Aussichtspunkt an der Gartenstraße angebrachte Fernrohr benutzen und auf Beobachtungsstation gehen. Denn einiges deutet darauf hin, dass sich hinter den dicken Mauern wie auch immer Leben abspielt. An dem Bauwerk sind beispielsweise Entlüftungsklappen angebracht, die sich bewegen. Auf dem Dach befindet sich eine Satellitenschüssel. Und vorne an der Eingangstür gibt es ein kleines Signallicht. Doch wird man dadurch gescheiter oder wird es eine vergebliche Annäherung bleiben?

Mit diesen Fragen lässt der Künstler die Rezipienten aber nicht alleine. Wer angefixt wurde durch die zunächst unergründliche Situation, der sei auf den YouTube-Kanal station-p von Dirk Schlichting verwiesen. Dort gibt es im Festivalzeitraum täglich zwischen 19.20 und 19.30 Uhr einen Livestream. Schon jetzt bekommt man auf dem Kanal durch einen gezeichneten Grundriss eine Ahnung vom Innenleben des Schutzbunkers mit Brauchwassertank, Ventilationsaggregat, Koch- und Schlafstelle bis hin zum Heimtrainer, der für die Stromerzeugung herhalten muss.

Das Thema Rückzug legte die Festivalorganisation schon vor der Coronazeit fest.

Man könnte jetzt meinen, dass sich das Festivalthema „Unter Beobachtung – Kunst des Rückzugs“ auf Corona-Lockdown-Zeiten bezieht. Galerieleiter Schick lässt dazu aber wissen: „Dass Corona kam, ist der Gipfel der Ironie. Es war nicht die Absicht, darauf zu reagieren.“ Und Gottfried Hattinger schreibt im Begleitheft zu dem Projekt: „Unversehens bekam unser Thema ganz neue Brisanz und Aspekte, die uns alle betreffen. Der bislang hauptsächlich positiv bewertete Wunsch nach Rückzug ist plötzlich zum Zwang geworden, zur häuslichen Gefangenschaft, zur ,Wohnhaft‘. (...). Insofern sind die Grundüberlegungen und Fragen zum Festivalthema auf gespenstische Weise aktuell.“ Bei der Konzeption hatten die Festivalmacher die digitale Welt im Blick, die bedenkenlose öffentliche Preisgabe von Privatem, die Überwachungssysteme, deren Komplizen wir selbst sind, bis hin zu genetischen Manipulationen. Hattinger: „Wo also gibt es noch Rückzugsorte, um sich als Individuum zu schützen und zu behaupten? Wo sind die Refugien, Reservate, Idyllen oder Oasen, in denen wir Zuflucht finden, wenigstens für eine Weile ohne mediale Bedrängnis? Können Orte der Kunst und Kultur solche Reservate sein? Mit diesen Fragen haben wir Künstler aus allen Genres konfrontiert und eingeladen, sich auf ihre individuelle Weise damit zu beschäftigen und Projekte zu entwickeln, die schließlich in der Gesamtschau als facettenreiches Themenfeld inszeniert werden.“

Dirk Schlichting leistet dazu an einem ganz speziellen Ort mitten in Backnang einen Beitrag, der auf der einen Seite – freilich mit einem Augenzwinkern – reichlich absurd daherkommt, auf der anderen Seite einen Schandfleck in der Stadt überhöht und etwas Großes in der Welt der Kunst daraus macht. Die komplette Szene mit der bunkerähnlichen Skulptur könnte man sich überdies auch als Kulisse für einen Science-Fiction-Film vorstellen. Aus dem Bunker würde dann vielleicht ein Stützpunkt von Außerirdischen werden. Auch eine Marsstation wäre denkbar.

Dirk Schlichting spielt mit seiner Installation in der Oberen Walke in Backnang und seiner YouTube-Performance mit der Lust der Menschen, das zu sehen, was im Verborgenen vor sich geht. Dabei zieht er uns in ein Spannungsfeld aus Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit hinein: Je ferner und unnahbarer etwas erscheint, desto größer ist der Reiz, ganz nah heranzutreten. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Dirk Schlichting spielt mit seiner Installation in der Oberen Walke in Backnang und seiner YouTube-Performance mit der Lust der Menschen, das zu sehen, was im Verborgenen vor sich geht. Dabei zieht er uns in ein Spannungsfeld aus Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit hinein: Je ferner und unnahbarer etwas erscheint, desto größer ist der Reiz, ganz nah heranzutreten. Foto: A. Becher

Fokustag in Backnang

In Ergänzung zu den Kunstwerken wird auf jede der 21 beteiligten Kommunen während des Festivals ein spezieller Fokus gelegt. Bei diesen Fokustagen werden bei Konzerten, Lesungen und Diskussionen oder Festen weitere Zugänge zum Festivalthema eröffnet. Besucher bekommen dabei unter anderem die Möglichkeit, mit den Künstlern ins Gespräch zu kommen und einmalige Aktionen an den Kunstwerken mitzuerleben. Häufig wird an diesen Tagen auch eine Brücke zu parallel in den Kommunen stattfindenden Ausstellungen und Veranstaltungen geschlagen.

Beim Fokustag in Backnang am 9. Oktober gibt es um 16.30 Uhr eine Führung durch die Ausstellung „Vincent Tavenne“ in der Galerie der Stadt Backnang (die Werkschau ist ab 26. September, 14 Uhr geöffnet). Zu einer Videoliveperformance von Dirk Schlichting wird um 18 Uhr ins Boon Café (Außenbereich ) eingeladen. Zudem steht ein Vortrag von Marc Steckling, CEO bei Tesat-Spacecom, um 19.30 Uhr im Kino Universum auf dem Programm. Danach ist dort ab 20 Uhr der Film „Gravity“ in 3-D (USA 2013, 90 Minuten) von Regisseur Alfonso Cuarón zu sehen. Weitere Infos: www.kulturregion-stuttgart.de

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Erstellt:
19. September 2020, 06:00 Uhr

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