TV-Tipp: „Hundertdreizehn“
Eine Katastrophe für alle
Die ARD-Serie „Hundertdreizehn“ geht anhand eines Busunfalls der Frage nach, wie viele Personen direkt oder indirekt betroffen sind, wenn ein Mensch tödlich verunglückt.

© WDR/Windlight Pictures/Alessio M. Schroder
Riccarda (Anna Schudt) bricht am Unfallort zusammen.
Von Tilmann P. Gangloff
Schon der Titel weckt Neugier: Was mag es wohl mit der Zahl auf sich haben? Tatsächlich handelt es sich um das Ergebnis einer seriösen wissenschaftlichen Untersuchung: Durchschnittlich 113 Personen sind laut Bundesverkehrsministerium direkt oder indirekt involviert, wenn jemand bei einem Unfall ums Leben kommt. Betroffen sind ja nicht nur Familie und Freundeskreis, sondern auch jene, die den Unfall beobachtet haben oder als Mitglied von Polizei, Feuerwehr und Rettungsteams im Einsatz ist. Von all diesen Menschen erzählt die im Auftrag von WDR und ORF produzierte Serie.
Der besondere Reiz der sechs Folgen resultiert aus der radialen Dramaturgie: Im Zentrum steht die Katastrophe, strahlenförmig werden nun die Beteiligten eingebunden. Jede Episode konzentriert sich auf eine einzelne Figur, aber alle sind durch das Ereignis miteinander verbunden. Autor Arndt Stüwe hat diese Erzählweise zwar nicht erfunden – zwei ZDF-Serien über die „Macht der Kränkung“ waren zum Beispiel ganz ähnlich strukturiert –, aber das Konzept ist erneut faszinierend, zumal die handelnden Personen gänzlich unterschiedliche biografische Hintergründe haben und Stüwe auf diese Weise sechs grundverschiedene Geschichten erzählt.
Jede Episode beginnt damit, dass der Titel „Hundertdreizehn“ in tausend Scherben zersplittert, die sich dann zu einem Namen zusammenfügen. Episode eins ist Theo (Felix Kramer) gewidmet, der als Busfahrer regelmäßig zwischen Köln und Graz hin und her pendelt. Hauptfiguren sind zum Auftakt jedoch zwei Frauen: Aus den Fernsehnachrichten erfährt Riccarda (Anna Schudt), dass ihr Lebensgefährte und Vater der gemeinsamen Tochter kurz nach der abendlichen Abfahrt aus Köln einen schweren Unfall verursacht hat. Der Bus ist vor einem Tunnel der Stadtautobahn auf die Gegenspur geraten und hat dort eine Schneise der Verwüstung gezogen.
Riccarda findet sich gemeinsam mit anderen Angehörigen zur Identifizierung der Opfer ein. Als Theos Name aufgerufen wird, erlebt sie einen zweiten Schock, der ihr endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht: Es meldet sich noch eine zweite Frau (Patricia Aulitzky); Theo hat ein Doppelleben geführt und noch eine weitere Tochter. Während sich die beiden Teenager auf Anhieb gut verstehen, bleiben ihre Mütter auch über den Tod hinaus Konkurrentinnen.
Ein gänzlich anderes Drama erlebt der Spediteur Richard Born (Armin Rohde). Er hat die Katastrophe zufällig beobachtet, sein Bürofenster ist quasi ein Logenplatz. Mit Hilfe einer cleveren Bildgestaltung wird recht bald deutlich, dass seine Schilderung des Unfallhergangs nicht zuverlässig ist: Born leidet an beginnender Demenz. Allerdings erinnert er sich ziemlich gut daran, dass der Lkw eines Konkurrenten dem Bus beim Überholmanöver unmittelbar vor dem Spurwechsel bedenklich nahe gekommen ist.
Zusätzlich zu den einzelnen Schicksalen setzen Stüwe und Regisseur Rick Ostermann die horizontale Erzählung fort. Zentrale Figuren der Ermittlungsebene sind ein Kripo-Kommissar (Robert Stadlober) und eine BKA-Expertin (Lia von Blarer) für Amokfahrten und Selbstmordattentate: Die Auswertung der Busdaten zeigt, dass Theo nach dem Spurwechsel nicht etwa gebremst, sondern Vollgas gegeben hat. Rätselhaft ist auch der von einer Überwachungskamera gefilmte Anruf, den er unmittelbar vor der Abfahrt bekommen hat; das Telefonat hat ihn sichtlich erschüttert.
„Hundertdreizehn“ ist kein Krimi. Aber natürlich zieht sich die Frage, wie es zu dem mit großem Aufwand inszenierten Busunglück kommen konnte, wie ein roter Faden durch die Serie; clever lockt Stüwe zu Beginn auf eine falsche Fährte. Davon abgesehen beeindrucken die Folgen nicht zuletzt durch die handwerklich herausragende Kombination der verschiedenen Zeitebenen, zumal Buch und Regie auch mal mit Vision und Wirklichkeit spielen.
Auf diese Weise setzt sich wie bei einem Puzzle nach und nach das komplette Bild des Unfallhergangs zusammen. Davon abgesehen ist jede Folge von großen Gefühlen wie Trauer, Liebe oder Schuld geprägt. Nicht alle Episoden sind darstellerisch so bewegend wie jene mit Armin Rohde oder so erschütternd wie die Geschichte einer jungen Architektin (Friederike Becht), die zu den wenigen Überlebenden des Busunglücks gehört. Aber sämtliche handelnden Personen sind tragische Figuren, selbst wenn ihnen das Schicksal scheinbar hold war: Einem Feuerwehrmann (Max von der Groeben) hilft der Einsatz, ein Kindheitstrauma zu überwinden. Die bitterböse Schlusspointe ist allerdings fast schon zynisch.
Hundertdreizehn. Am Dienstag, 14. und am Mittwoch, 15. Oktober, zeigt das Erste ab 20.15 Uhr jeweils drei Folgen des Sechsteilers. Die Serie steht komplett in der ARD-Mediathek.