Ausstellung „Welten“ in Backnang

Die Ausstellung „Welten“ in der Galerie der Stadt Backnang zeigt drei Werkgruppen der Künstlerin Brigitte Waldach aus den Jahren 2009 bis 2022. Zudem bespielt die Berlinerin die Fenster des mit der Galerie verbundenen gotischen Chorraums mit ihrer Kunst.

Die Fenster des gotisches Chors der Backnanger Galerie hat die Berliner Künstlerin Brigitte Waldach mit bunten Folien bestückt. Damit thematisiert sie ein Europa der Zukunft. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Die Fenster des gotisches Chors der Backnanger Galerie hat die Berliner Künstlerin Brigitte Waldach mit bunten Folien bestückt. Damit thematisiert sie ein Europa der Zukunft. Foto: Alexander Becher

Von Ingrid Knack

Backnang. Die bunt leuchtenden Fenster im gotischen Chor der Backnanger Galerie lassen schon von außen erkennen: Eine neue Ausstellung ist zu sehen, die es so nur in Backnang geben kann. Der ehemalige Kirchenraum, der Teil der Galerie ist, wird in ganz besonderer Weise zum Kunstraum. Die Berliner Künstlerin Brigitte Waldach (Jahrgang 1966) kann dank dieses schon lange säkularen Zwecken dienenden Juwels aus dem 13. Jahrhundert ihre hochkomplexe Serie von Arbeiten unter dem Titel „European Landscape_Field“ aus diesem Jahr noch um eine Dimension erweitern.

Für die temporäre Gestaltung der Fenster zitiert die ehemalige Meisterschülerin von Georg Baselitz aus ihrer aktuellen „European Landscape_Field“-Serie. Zusammen mit einer Backnanger Firma sei eine optimale Lösung gefunden worden, „dass diese Motive nach innen und nach außen leuchten“, sagt Waldach bei einem Rundgang durch die Ausstellung im Vorfeld der heutigen Vernissage um 20 Uhr.

So etwas wie ein Barcode

Bei der groß angelegten Serie, die noch nicht in allen geplanten Teilen fertig ist, geht es um eine neue Darstellung, ein neues Branding der EU, wie auch ein in der Backnanger Werkschau zu sehendes Diptychon (Gouache, Pigmentstift auf Bütten) vor Augen führt. „Alle EU-Mitglieder sind hier mit ihren Flaggen zu Streifen geworden“, so Brigitte Waldach. Das Ganze geht zurück auf eine Idee des holländischen Architekten Rem Koolhaas, der einmal den Auftrag bekam, die Europaflagge zu modernisieren. Durch die horizontale Anordnung der unterschiedlichen Nationalfarben ist in Waldachs Diptychon so etwas wie ein Barcode entstanden, den die Künstlerin dazu benutzt, neue europäische Landschaften zu kreieren, an deren nationalen Grenzen Übergänge eingebaut sind. Die Bedeutung von Wissenschaft und Literatur über nationale Grenzen hinweg wird damit unterstrichen.

Die Strichcodes beziehen sich auf die Mitglieder, die bis 2002 in die EU aufgenommen wurden. Für das, was danach geschah, also nach der Euro-Einführung, stehen die Kreise – oder ein wie die Sonne aufgehender, noch nicht vollständig zu sehender Kreis in den Farben der Ukraine. Dagegen hat sich der Kreis in den Farben Großbritanniens schon verabschiedet.

„Die EU funktioniert nur, wenn sie ein dynamisches System ist“

Gleichzeitig betont Waldach so, was ihrer Meinung nach von Rem Koolhaas nicht angedacht worden ist, nämlich „dass die EU nur funktioniert, wenn sie ein dynamisches System ist. Das heißt, der Aufnahmeprozess muss modernisiert werden, er muss sozusagen entzerrt werden“. Die vertikalen Streifen beziehen sich übrigens auf Architektonisches, die Horizontalen rufen landschaftliche Assoziationen hervor. Doch die Arbeiten müssen auch ganz ohne all dieses Hintergrundwissen funktionieren.

Zu ihrer Idee von Kunst sagt Brigitte Waldach: „Es gibt natürlich eine inhaltliche Intention, einen Standpunkt, der ist meist komplex und die Arbeiten sind sehr zeitintensiv, aber ob diese dann decodiert werden, das interessiert mich nur bedingt. Wichtig ist nur, dass ein Dialog entsteht.“ Waldach gibt praktisch Impulse über Form, Schrift, die in ihren Arbeiten als Schriftwolken auch eine zentrale Rolle spielt, und Farbe, die jeder dann in sein persönliches Gedankensystem einfließen lassen kann. Wer allerdings in die Gedankenwelt der Künstlerin eintauchen möchte, kann QR-Codes über das Handy aktivieren, die neben den Titeln der Exponate zu finden sind. Dann hört man Brigitte Waldach über ihre Intentionen sprechen, was über den Erkenntnisgewinn hinaus eine besondere Ästhetik hat.

Eine Besonderheit ist das Negativverfahren

Der bisher größte Werkzyklus Brigitte Waldachs stammt aus dem Jahr 2019 und ist in der städtischen Galerie in Backnang in Ausschnitten zu sehen. Waldach hat 32 monumentale, mit 6-B-Bleistiften geschaffene Graphitzeichnungen (zehn Triptychen und zwei Einzelblätter) zu den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach kreiert. In den 1742 notierten Variationen hat Bach eine Arie, eine Ausgangsmelodie, 30 Mal variiert und diese Bearbeitungen in Dreiergruppen unterteilt. „Das hat mich dazu gebracht, diese Variationen in Triptychen zusammenzufassen“, erklärt Waldach, für die die Variationen wegen der unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Teile eine Reise durch das ganze Leben sind.

Von der Serie, in der sich die Künstlerin mit den Goldberg-Variationen auseinandersetzt, ist das Bild zu sehen, das das Ausgangsstück ohne Notenlinien und -hälse zeigt – eine Besonderheit dabei ist auch das Negativverfahren (alles was Weiß ist, ist ausgespart). Zudem sind das letzte Triptychon mit dem „Wurmloch“-Motiv und die allerletzte Zeichnung, bei der alle 30 Variationen übereinandergelegt sind, ausgestellt. Brigitte Waldach: „Das ist im Grunde genommen die Zusammenfassung dieses riesigen Zyklus’“. In dem „Wurmloch“-Triptychon verzerrt und verschiebt Waldach die Notationen. Denn was durch ein solches Loch geht, verändert sich. „Genau das habe ich auch mit der Musik gemacht.“ Die Künstlerin hat zwei legendäre Einspielungen der Goldberg-Variationen von Glenn Gould in einem Tonstudio gezerrt, gedehnt, übereinandergelegt.

In einer weiteren Bildserie befasst sich Waldach mit der Geschichte und der Aufarbeitung des Terrorismus der Rote Armee Fraktion, der die westdeutsche Gesellschaft in den 1970er-Jahren herausforderte. Galerieleiter Martin Schick spricht von einem „unendlichen Bild- und Reflexionsraum, in dem sich landschaftliche, textliche, literarische, historische und musikalische Motive und Aspekte überlagern“. Selbst die Filmregisseure Martin Scorsese und Stanley Kubrick und der Schriftsteller Thomas Bernhard werden in einer Art und Weise Stoff für die bildende Kunst, die derart faszinierend ist, dass man als Betrachter schon mal Raum und Zeit vergessen kann.

Eröffnung ist heute um 20 Uhr

Vernissage Die Ausstellung „Welten“ von Brigitte Waldach wird am heutigen Freitag, 9. Dezember, um 20 Uhr in der Galerie der Stadt Backnang, Petrus-Jacobi-Weg 1, eröffnet. Sie läuft bis Sonntag, 26. Februar 2023. Das Haus ist am Eröffnungstag bereits um 17 Uhr geöffnet. Einige Werke von Brigitte Waldach werden überdies im Tom gezeigt, dem früheren Kiosk am Bahnübergang beim ehemaligen Spinnereibahnhof, Spinnerei 2. Im Anschluss an die Eröffnung in der Galerie gibt es dort um 21.30 Uhr eine weitere kleine Eröffnung.

Leihgaben Waldachs Werke befinden sich in öffentlichen Museen wie etwa der Albertina in Wien, dem Museum Kunstpalast Düsseldorf und dem Berliner Kupferstichkabinett sowie in bedeutenden deutschen Privatsammlungen. In der Backnanger Ausstellung sind viele Leihgaben zu sehen.

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Erstellt:
9. Dezember 2022, 06:00 Uhr

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