Stuttgarter Architekt Frei Otto
Frei Otto – der Stuttgarter, der die Architektur schweben ließ
Er war Schöpfer unvergesslicher Bauten: der Stuttgarter Ausnahmearchitekt Frei Otto. Zu seinem 100. Geburtstag überrascht eine neue Monografie mit interessanten Einsichten.
© Fritz Dressler/Prestel Verlag
Frei Otto in seinem Atelier in Warmbronn (circa 1969)
Von Tomo Pavlovic
Es ist immer wieder aufs Neue ein geradezu kindliches Staunen, das seine Arbeiten hervorrufen. Wie ein zartes Spinnennetz, das sich auf emporragende Zweige legt und sie umhüllt, wirkt das Dach des Münchner Olympiastadions. Ein Bauwerk, das weit mehr als ein spektakuläres Dach war, sondern vielmehr eine gebaute Metapher für ein neues, friedliches, vielleicht sogar beschwingtes Deutschland.
Mit Günter Behnisch verwirklichte Frei Otto von 1968 bis 1972 die Überdachung der Hauptsportstätten am Olympiagelände. Der Olympiapark ist für die Münchner auch Jahrzehnte nach den Spielen von 1972 ein überaus beliebter Stadtraum zur Erholung.
Der Ausnahmearchitekt aus Stuttgart
Der Architekt Frei Otto war Meister in der Kunst, die Natur mit dem Gebauten zu versöhnen und dadurch einen Ort zu schaffen, an dem Menschen sich wie Menschen fühlen dürfen. 1925 im sächsischen Siegmar geboren, Segelflieger und Kampfpilot im Zweiten Weltkrieg, hatte Frei Otto dem Flugzeugbau abgeschaut, wie das gehen kann: leicht und zugleich stabil zu konstruieren.
Dabei waren es nicht nur die Ingenieurleistungen aus der Luftfahrtindustrie, die er für die Architektur studierte, sondern es waren vor allem auch Konstruktionsprinzipien aus Flora und Fauna, denen er auf seine Weise huldigte. Insektenflügel, Vogelschädel, Spinnennetze faszinierten und inspirierten diesen Ausnahmearchitekten ein Berufsleben lang.
Frei Ottos Ideen waren ganz im Namenssinne frei
Übrigens war der Mann ein talentierter und bis ins hohe Alter praktizierender Tänzer, auch das vielleicht ein Hinweis darauf, weshalb seine Architekturen musikalisch erscheinen, rhythmisch, voller Schwünge.
Eines ist jedoch sicher: Frei Ottos Ideen waren ganz im Namenssinne frei. Sie haben nicht nur Dächer gespannt, sondern Denkräume eröffnet – für ein Bauen, das sich der Schwerkraft entziehen wollte, getragen von einem tiefen Verantwortungsbewusstsein für Mensch, Ressourcen und Umwelt. Kein Ort verkörpert diesen Geist stärker als Stuttgart: die Stadt, die Otto geprägt hat – und die er geprägt hat.
Das Münchner Olympiadach wurde in Stuttgart ersonnen
Die Universität Stuttgart war mehr als zwei Jahrzehnte sein geistiges Refugium. Besonders an dem von Otto gegründeten Institut für Leichte Flächentragwerke (IL), aus dem das heutige Institut für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) hervorging, formte er Forschung, Lehre und Konstruktionsästhetik.
Frei Otto hat natürlich sehr viel mehr wegweisende Bauwerke als das Zeltdach im Münchner Olympiapark geschaffen, die lichte Multihalle in Mannheim etwa, die für die Bundesgartenschau 1975 als temporäres Gebäude entstand und gerade saniert wird. Sie gilt als größte frei geformte Holzgitter-Schalenkonstruktion der Welt, und darüber hinaus als wertvolles Beispiel für organische Architektur.
Der Pritzker-Preis für den Stuttgarter Stararchitekten
Oder die fast unwirklich in der Münchner Luft schwebende Großvoliere im Tierpark Hellabrunn, die nahezu unsichtbar ein Areal von 5000 Quadratmetern überspannt. So filigran ist das baldachinförmige Dach aus Edelstahl gewebt, so geschickt über das Areal gespannt, als wäre es ein feiner, über Stangen gespannter Strumpf.
1980 wurde die Voliere in Betrieb genommen und bald mit dem bayerischen Architekturpreis des Bunds Deutscher Architekten ausgezeichnet. Nicht die einzige Würdigung, die Otto zuteilgeworden ist. Die wichtigste erhielt er allerdings erst nach seinem Tod im Jahr 2015: den Pritzker Architecture Prize für das „Schöpfen unvergesslicher Gebäude und Orte“, wie es in der Begründung der Jury hieß.
Sehenswerte Architektur made in Stuttgart
Im Prestel-Verlag ist gerade die Monografie des visionären Architekten erschienen. Sie widmet sich im Jahr seines 100. Geburtstags seinen Werken und vor allem seiner Philosophie vom Bauen, Wohnen und Leben. Dass Frei Otto ein überaus gut aussehender und fotogener Mann war, wird in dieser wirklich lesens- und sehenswerten Monografie auch schön deutlich.
Info
BuchFrei Otto: 1925–2015. Bauen mit der Natur. Von Joaquín Medina Warmburg (Herausgeber), Anna-Maria Meister (Herausgeber), Martin Kunz (Mitherausgeber), Prestel Verlag, München 2025. 256 Seiten, 59 Euro.
© Archiv Berthold Burkhardt / Prestel Verlag
Frei Otto im Seilnetz des Deutschen Pavillons auf der Expo 67 in Montreal (1966).
© Werkarchiv Frei Otto / Prestel Verlag
Frei Otto am Modell für die Überdachung der Olympiaschwimmhalle in München (ca. 1970)
© Werkarchiv Frei Otto / Prestel Verlag
Frei Otto mit Larry Medlin, Zelt mit gleichmäßigen Hoch- und Tiefpunkten (1964), Modell.
© Seeland, Engel / Prestel Verlag
Modell des realisierten Entwurfs und Projekts am Askanischen Platz in Berlin.
© Werkarchiv Frei Otto / Prestel Verlag
Das Team von Frei Otto beim Testen der Membran.
© Werkarchiv Frei Otto / Prestel Verlag
Kenzo Tange mit Frei Otto, Projektstudie „Stadt in der Arktis“ (1971), Modellfoto
© Werkarchiv Frei Otto / Prestel Verlag
Großschirme auf der Bundesgartenschau in Köln (1971), Modell.
© Prestel Verlag
Das ist die Coverseite zur Monographie „Frei Otto (1925 – 2015) Bauen mit der Natur“, die zum 100. Geburtstag des Architekten im Prestel-Verlag erschienen ist. Darauf zu sehen ist der Deutsche Pavillon auf der Expo 67 in Montreal (1967). Alle hier gezeigten Fotos und Abbildungen stammen aus diesem Band.
