Ljudmilla Ulitzkaja 80

Kein Platz für Nostalgie

Ljudmilla Ulitzkaja hat die menschlichen Kosten der Sowjetära in großen Romanen ausgelotet. Mutig bezieht die Repräsentantin eines anderen Russlands Stellung gegen das Putin-Regime. Nun feiert sie ihren 80. Geburtstag.

Grande Dame der russischen Gegenwartsliteratur: Ljudmilla Ulitzkaja

© IMAGO/ITAR-TASS/IMAGO/Vladimir Gerdo

Grande Dame der russischen Gegenwartsliteratur: Ljudmilla Ulitzkaja

Von Stefan Kister

Es ist gerade ein paar Monate her, da wurde in Russland eine Liste der verbotenen Bücher an alle Buchhandlungen verschickt. Auch die von Ljudmilla Ulitzkaja standen darauf. Womit sich der Kreis ihrer schriftstellerischen Laufbahn eigentümlich schließt. Wegen der Verbreitung unerlaubter Schriften verlor die am 21. Februar 1943 im Ural Geborene ihre Arbeit als Genetikerin, was ihrem endgültigen Übertritt auf das Gebiet der Literatur den entscheidenden Schub gab.

Ulitzkaja stammt aus einer Familie, die die Zeiten der Repression unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin erlebt hatte. In ihrem 2022 während der Pandemie auf Deutsch erschienenen, aber schon in den Siebzigerjahren geschriebenen Roman „Die Seuche in der Stadt“ wird die Bekämpfung eines Pestausbruchs 1937 zu einer Parabel des Stalinismus. Auch in dieser Hinsicht schließt sich in Russland gerade ein Kreis.

Die Großeltern Ulitzkajas kommen aus Kiew. Ihre Geschichte erzählt der Roman „Jakobsleiter“, eine Folge von Pogromen und Diskriminierungen, denen die jüdische Intelligenzija in den Gründerjahren der Sowjetunion ausgesetzt war. Auch ihr Meisterwerk „Das grüne Zelt“ ist ein Epochenroman, der die fragilen Verhältnisse, Freundschaften und Neigungen aus dem unbarmherzigen Prägewerk der sowjetischen Menschheitsschmiede in das Reich der Literatur rettet. Für Nostalgie bleibt da kein Platz.

2013, unmittelbar vor der russischen Annexion der Krim, glaubte die Grande Dame der russischen Gegenwartsliteratur, die Putins Politik immer offen kritisiert hatte, noch an ein Aufleben der Zivilgesellschaft ihres Landes, wenig später empfand sie nur noch Scham, für ein Land, das seinen moralischen Kompass verloren habe. Am Tag des Überfalls auf die Ukraine veröffentlichte die Siegfried-Lenz-Preisträgerin von 2020 eine mutige Stellungnahme, in der sie zum entschlossenen Widerstand gegen die Propaganda-Lügen des Putin-Regimes aufruft. Mittlerweile sind ihre Hoffnungen zerstoben, die Zivilgesellschaft könne gegen die brutalen Repressionen noch etwas ausrichten. Seit letztem Jahr lebt sie wie viele andere ihrer Kolleginnen und Kollegen auf der Liste der verbotenen Bücher in Berlin. Dort sind ihre Werke in jeder Buchhandlung zu haben. Man sollte sie lesen.

Zum Artikel

Erstellt:
20. Februar 2023, 13:52 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!