Neu im Kino
Kinnhaken, Meerschweinchen und ein letzter Kuss
Adam Elliots Stop-Motion-Animationsdrama „Memoiren einer Schnecke“ ist ein tragikomischer, Oscar-nominierter Stoff für Erwachsene.

© epd
Früh getrennt: Zwillinge Gilbert (li) und Grace
Von Kathrin Horster
Manchen haut das Leben voll auf die Mappe, einfach so und ohne Vorwarnung. Schon bei seiner Geburt hat das Zwillingspaar Grace und Gilbert Pudel miese Karten. Die Mutter stirbt noch im Kreißsaal, der Vater, ein Artist, sitzt nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Das Geld ist chronisch knapp, die Angst, dass ihrem unter Schlafapnoe und Alkoholismus leidendem Ernährer etwas zustoßen könnte, ist täglicher Begleiter der Kinder. Grace wird überdies an ihrer Schule gemobbt; Gilbert versetzt dafür den Blagen Kinnhaken um Kinnhaken, so, wie das Leben ihm und seiner Schwester. Doch dann stockt Vater Percy eines Tages im Schlaf tatsächlich der Atem – für immer. Weil niemand Zwillinge adoptieren will, werden die Geschwister auseinandergerissen.
Grace landet in einer australischen Suburbia bei den kinderlosen Nudisten Ian und Narelle, während Gilbert von fanatisch-religiösen Landeiern als kostenlose Arbeitskraft auf deren Apfelfarm ausgebeutet wird.
Die Traurigkeit in Adam Elliots Stop-Motion-Animationsdrama „Memoiren einer Schnecke“ wirkt erst einmal überwältigend. Obwohl hier glubschäugige und pausbäckige Knetfiguren durch eine drollig unaufgeräumte Welt stolpern, ist dieser Trickfilm kein Stoff für kleine Kinder. Adam Elliot hatte schon 2009 mit seinem kaum weniger elegischen Stop-Motion-Langfilm-Debüt „Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?“ Aufmerksamkeit erregt, auch beim Internationalen Trickfilmfestival (itfs) in Stuttgart. Die „Memoiren einer Schnecke“ waren 2024 sogar für einen Oscar nominiert.
Kein Wunder: Die Mischung aus eigensinniger Ästhetik mit Mut zur Hässlichkeit, aufrichtiger Traurigkeit und subversivem Witz hebt Elliots Geschichten ab vom wohl berechneten, ästhetisch dauerhellen Optimismus kassenträchtigerer Werke aus dem Disney-Universum, die auf ein Familienpublikum zielen. Adam Elliot nimmt dagegen eher Erwachsene in den Blick.
Weil es für Themen wie Einsamkeit, Homophobie, Zwangserkrankungen, religiöse Gewalt, Missbrauch und Depression eine gewisse Resilienz und Lebenserfahrung braucht, die Kinder noch nicht mitbringen, sind die „Memoiren einer Schnecke“ erst ab zwölf Jahren frei gegeben. Was aber nicht heißt, dass der mit Hingabe ans Detail handgefertigte Film in monochromen Schattierungen von Braun, Ocker und Grau nicht unterhaltsam wäre.
Elliot stellt seinen gebeutelten Protagonisten Grace und Gilbert ein liebenswürdig schrulliges Ensemble an die Seite, etwa die exzentrische Rentnerin Pinky, die so heißt, weil sie beim Table-Dance ihren kleinen Finger, auf englisch „Pinky“, mit den messerscharfen Rotorblättern des Ventilators abrasiert hatte. Pinky wird zur besten Freundin von Grace und beobachtet, wie die ihre Liebe zu Schnecken zur heiklen Sammelwut ausbaut. Stille Helden sind auch Graces sich im Sekundentakt duplizierende Meerschweinchen, die mit putzigem Überbiss und großen Kulleraugen in Graces Chaos blinzeln.
Parallel dazu erzählt Adam Elliot von Gilberts Kampf gegen die Bigotterie und dessen Versuche, sich gegen Vereinnahmungen durch seine radikale Pflegemutter zur Wehr zu setzen. Beide Kinder ersehnen, sich eines Tages wieder zu treffen, und ihre Alltagshöllen zu überleben. Diese Hoffnung treibt Grace und Gilbert an, wie den Filmemacher Adam Elliot als Erzähler. Am Ende, soviel sei verraten, gibt das Schicksal den beiden doch noch einen Kuss.
Memoiren einer Schnecke. Australien 2024. Animationsfilm. Regie: Adam Elliot. 94 Minuten. Ab 12 Jahren.